Das neue Berliner Subproletariat

„Der Boom ist jetzt vorbei“

Es gilt die Faustregel: Je amerikanischer die Namen der gastronomischen Existenzgründungen in Ostberlin – „Hollywood“, „Broadway“, „Miami“ –, desto kurzlebiger das Unternehmen. Zuletzt hilft nicht einmal mehr ein „Table-Dance“ zur „Happy-Hour“.

Namen wie „Uschi und Jürgen“, „Weißer Hirsch“ und „Bürgerbräustuben“ signalisieren in den weiter östlich gelegenen Stadtgebieten dagegen seltsamerweise subproletarische Seriosität. „Die Leute hier haben früher alle ehrlich gearbeitet und wollen nun auch ehrlich Gezapftes trinken“, meint Dieter, der Wirt des „Heid-Away“ in Hohenschönhausen. Früher war Dieter Trainer der DDR-Fechtmannschaft, dann Allianz-Vertreter. Nachdem er seiner ganzen Verwandtschaft Policen aufgeschwatzt hatte, meldete er sich arbeitslos. Auch heute noch hat er es schwer, als Selbstständiger „hinzukommen“. Deswegen liebäugelt er mit einem Landgasthaus „in ruhiger Lage“. Jeden freien Tag ist er unterwegs auf der Suche. Von seinen früheren Sport- und Versicherungs-Kumpeln leben die meisten schon lange „draußen“, also vor Berlin. Nicht selten in alten Bauernhäusern, wo sie Kampfhunde züchten. „Aber das mit den Hunden – dieser Boom ist jetzt vorbei“, meint Dieter nachdenklich.

Im „Heid-Away“ hatte er so manchen Welpen an den Mann gebracht. Später verwandelte sich die Kneipe sonntagmorgens oft in einen Pitbull-Treff. „Aber die Hunde von meinen Gästen haben noch nie jemanden angefallen“, versichert der Wirt, dessen Nebenerwerb immer mehr zurückgegangen ist, seit seine Hunde züchtenden Kumpel auf dem Land sich nach anderen Verdienstmöglichkeiten umsehen und ihre letzten Tiere nach Osteuropa verkaufen.

Dafür stehen jetzt holländische Händler auf der Matte, die ihnen eine Chinchilla-Zucht andrehen wollen. Sie versprechen fantastische Gewinnspannen – erwähnen jedoch nicht, dass diese Preise nur für ausgesuchte Spitzenfelle gelten. Einer von Dieters Freunden, Dirk, hat in der Nähe von Küstrin sogar eine kleine Straußenzucht im Garten angefangen: „Das Fleisch nimmt ihm ein Großhändler ab“, erklärt Dieter, der im „Heid-Away“ schon zweimal „Straußenschnitzel“ auftischte, als Stammgäste in seiner Kneipe heirateten: „Mit Polterabend, Fotografen und allem Drum und Dran. Da war was los!“

Die zwei Fotografen, Inge und Klaus, waren früher bei der Berliner Zeitung. Zuletzt leiteten sie Fotokurse im Rahmen einer Fortbildungsmaßnahme für neue Medien in Pritzwalk. Dann wagten sie mit einem Faxgeräte-Import „den Sprung in die Selbstständigkeit“. Heute ist davon aber nur noch ein kleiner Handy-Handel unter der Hand übrig. „Wenn wir uns hier alle, wie wir sind, ins Handy-Geschäft stürzten, würde glatt der Markt zusammenbrechen“, meint Klaus, wobei er sich diese Branche – sicher nicht zu Unrecht – wie eine wackelige Notbrücke vorstellt. Da er tatsächlich der Einzige bisher im „Heid-Away“ ist, der Handys verkauft, blieb dieses Geschäft bisher auch relativ lukrativ für ihn – „aber nur vor Steuern“, wie er zu beteuern pflegt.

Neulich kam sein Freund, „der Physiker“, vorbei. Er hat jetzt ein Antiquariat, das er in ein Lesecafé umwandeln will, wobei er mit einer Beratungsstelle für weiche Drogen zusammenarbeitet: „Wenn’s klappt, bin ich aus dem Schneider!“, behauptet er. Warum, verrät er nicht einmal seinem Freund Klaus. Es nimmt ihn deswegen auch niemand ernst: „Verwandeln müssen wir uns doch alle!“ „Tu ich ja, tu ich ja“, beschwichtigt sie der Ex-Physiker. Er befindet sich am Stammtisch an einer Schnittstelle mit den anderen: Während diese sich intellektualisieren, ist er dabei, sich zu reduzieren. Sie müssen erst mal immer alles durchquatschen, er dagegen verstummt langsam – besonders wenn es um Geschäfte geht, über die die anderen am liebsten reden. Bis auf Eddy, der sich nur dann ins Gespräch einschaltet, wenn es um Frauen geht. Wenn er betrunken ist und es kommt eine Frau ins Lokal, sagt er, werde er „quasi zum Stier!“ Das ist zwar übertrieben, aber tatsächlich fängt Eddy dann an, Stuss zu reden. Inge erzählte er einmal, dass man ihn hier immer für das hässliche Entlein halte, in Wahrheit sei er jedoch ein regelrechter Schwan: Der Einzige, der einen festen Job habe – und den würde er auch behalten: Er sei für die dauerhafte Vernetzung der vielen Teilnehmer auf der Expo zuständig. Inge war schwer beeindruckt – und fiel prompt auf ihn rein.

HELMUT HÖGE