Freies Prophezeien

SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY

„In zehn Jahren können wir mittels des Gen-Profils jeder Person und mit unserem Wissen über die Gene in den Nahrungsmitteln präzise sagen, was jemand essen sollte, um Risiken zu minimieren.“

Jeremy Rifkin, Der Tagesspiegel, 20.9.2000

„Die Menschheit kommt nicht darum herum, etwa vom Jahr 2000 an unterirdische Wohnzonen und Städte anzulegen, die zunächst eine Fortsetzung der bestehenden Städte ins Erdreich hinein sein werden. Später kommt dann eine Ausdehnung nach Eisberg-Profil hinzu, oberirdisch nach begrenzter Größe, unterirdisch weiter ausgedehnt.“

Der Spiegel, Nr.48/1966

Unter den Romanen, die unser Leben regieren, machte sich diesen Sommer der Zukunftsroman besonders breit. So nannte man das Genre, dem ich als Jüngling sehr zugetan war, während es heute Sci-Fi oder Fantasy heißt. In den Bücherschränken älterer Onkels fanden sich beispielsweise die Werke eines gewissen Hans Dominik, der die zukünftigen Triumphe der Maschinenbaukunst gern mit denen des deutschen Imperialismus verband. Wir bringen Atlantis zum Wiederauftauchen und besiedeln es statt der Kolonien, die 1918 verloren gingen. Ist auch viel größer und schöner!

Freilich bestimmte letztens der Zukunftsroman eben nicht unsere Romanlektüre vor dem Einschlafen, er beherrschte morgens beim Kaffeetrinken die Tagespresse. Seit die bekannte Zeitung für Deutschland im Feuilleton das Genom entschlüsselt hatte und sich Tag für Tag dem freien Prophezeien widmete, schien die Gegenwart überhaupt verschwunden. Wie uns schon bald die Roboterleins knechten werden, so dass man jetzt jederzeit die Ankunft des Terminators (Arnold Schwarzenegger) gewärtigen darf; wie das Feuilleton der FAZ im Jahr 2023 von einem Klon regiert wird, den Frank Schirrmacher rechtzeitig von sich anfertigen ließ . . . war nur ein Scherz.

Doch beschränkte sich der Zukunftsroman keineswegs auf die FAZ. Man widmete sich den Chancen genmanipulierter Bäume, und Jeremy Rifkin erklärte allüberall, wie schrecklich die Zukunft aussieht, wenn statt des Feuilletons der Wirtschaftsteil das Leben definiert, was sich das Feuilleton gern sagen ließ.

Wie soll man sich diese Eroberung der Zeitungslektüre durch den Zukunftsroman erklären?

Das Feuilleton war schon immer gern mit Prophezeien befasst. Doch richteten sich die Prognosen auf Roboterherrschaft und Genmanipulation. Es war das Feuilleton selbst, die Kultur, deren düstere Zukunft zu erschauen die Kultur nicht müde ward.

Doch hat sich dieser die Kultur durchdringende Pessimismus unterdessen stark erschöpft; er wurde als solcher, als Redeweise, allzu deutlich. Es kam hinzu, dass wir ohne rätselhaft drohende Himmelserscheinungen und Kälber mit drei Köpfen ins Jahr 2000 eintraten. Die schwarze Rede der Apokalyptik musste erst einmal pausieren.

Gleichzeitig ist der Effekt, den die schwarze Rede macht, ein gesteigertes Gegenwartsgefühl; gerade für das Zeitungswesen ganz unverzichtbar. „Bald weiß keiner mehr, wie man den Hamlet gibt, wie ein Apfel schmeckt . . .“ Das lässt sich jeder, der es noch weiß, gern sagen.

In der Romankunst entsteht an dieser Stelle die kompositorische Notwendigkeit, neues Material einzuführen, Personen oder Redeweisen, die bislang noch nicht vorkamen, aber für die schon entwickelten Personen und Redeweisen anschlussfähig sind. Und eben dies gelang mit der Implantierung der diversen Gen- und Nanofuzzia ganz unerwartet gut.

Unbekannte Namen die Fülle wurden in langen Interviews vorgeführt wie bislang nur die Generalintendanten für das Vereinigte Bühnenwesen. Darüber gingen die thrills des Pessimismus keineswegs verloren – wer wünscht sich schon die ewige Herrschaft Frank Schirrmachers dank Klonen? Aber das naturwissenschaftliche und Ingenieurpersonal lenkte mit seiner professionsbedingten Zukunftsorientierung doch die Aufmerksamkeit ab vom gewohnten Händeringen, Mahnen und Warnen. Eben dies steigerte sogar die thrills: dass die Planer und Macher, die normalerweise bloß den Wissenschaftsteil bevölkern, so gar nicht von des Gedankens Blässe angekränkelt sind, sondern sich herzhaft eine Leber vorstellen, die im Schwein geboren und dann einem Menschen implantiert wird. Da danken wir Gott, dass wir nicht sind wie sie!

Was die Sache selbst angeht, das Prophezeien, so hätte ich einen praktischen Vorschlag zu machen. Manche Zeitungen pflegen das Genre des Rückblicks, Selbstzitate mit Meldungen aus fernerer Vergangenheit. Es wäre nützlich und amüsant, fortlaufend die Prophezeiungen zu lesen, die einst über eine Zukunft gemacht wurden, die wir jetzt als Gegenwart erleben.

Die Sache mit den Städten, die wegen Platzmangels auf der Oberfläche ins Erdreich verlegt werden müssen, macht schon ein starkes Gefühl. Ich selbst erwartete übrigens, meinen 50. Geburtstag in einem Hotel am Rand des Mare Grisium zu feiern. Damals glaubte alles an die Raumfahrt, die einen Massentourismus zu den Nachbarplaneten mit sich bringen würde. Der Mond schien mir das Mindeste.

Hübsch waren auch die Individualhubschrauber, von denen die „Futurologen“ sicher waren, dass sie dem Auto mit unabänderlicher Konsequenz folgen. Vom Fahrrad zum Moped, vom Moped zum Auto, vom Auto zum Minihelikopter – den man sich wie einen Rucksack umschnallen könnte, um aus dem Stand zu schweben. So wünschte ich es mir dringend in manchen brenzligen Situationen auf dem Schulhof: wenn eine Prügelei anstand.

Des schnuckeligen Atommeilers, den jeder in seinem Garten betreibt, ist schon öfter gedacht worden. Er sollte immerwährende Heiz-, Kühl- und Kochenergie spenden und gleichzeitig mit seiner radioaktiven Strahlung das Wachstum der Pflanzen stimulieren. Tomaten groß wie Kürbisse hätte Mutti zum Abendbrot auftischen können!

Was die soziokulturellen Prognosen betrifft, so erscheinen sie unterdessen noch weit rätselhafter. Der kulturkritische Diskurs wurde bis tief in die Leitartikel und den Wirtschaftsteil hinein von einer inzwischen unbekannten Gefahr beherrscht: der „Vermassung“, die in Zukunft die Menschheit komplett uniformieren und seelisch gleichschalten werde, was der Tyrannei Tür und Tor öffne. Das Dritte Reich sei ein Ergebnis der „Vermassung“ gewesen, jetzt sei es die UdSSR und der gesamte Ostblock, der ja bald über uns siegen werde. Die „Vermassung“ der freien Welt kam mit derselben Gewissheit wie der geklonte Schirrmacher daher . . . war nur ein Scherz.

Dass also um das Jahr 2000 die soziokulturelle Sorge in den unterirdischen Städten um „Individualisierung“ kreisen werde, alle Leute machen, was sie wollen, was vor 50 Jahren unvorstellbar. Schlechte Aussichten, jetzt einigermaßen präzise zu prognostizieren, was in 50 Jahren ist. The earth belongs to the living, so Thomas Jefferson, einer der Väter der USA.

Hinweise:Seit sich das „FAZ“-Feuilleton dem freien Prophezeien widmete, schien die Gegenwart verschwundenEs wäre nützlich, fortwährend die Prophezeiungen zu lesen, die einst über die Zukunft gemacht wurden