„Straßenhunde“ üben Aufstand

Einige Fahrer, die um ihre Existenz bangen, versuchten sich in Berlin als Dichter: „Die Tanks sind leer, die Nerven blank, ändert was, sonst sind wir krank“

von BARBARA BOLLWAHN
DE PAEZ CASANOVA

Jürgen Beier hat noch nie in seinem Leben demonstriert. Gestern morgen erlebte der 54-Jährige sein erstes Mal. Der Grund: 60 Pfennig. Zahlte der selbständige Fuhrunternehmer im vergangenen Jahr 1 Mark und 10 Pfennig für den Liter Sprit, sind es mittlerweile 1 Mark und 70 Pfennig, reißt er 250 bis 300 Kilometer mit seinem Siebzehntonner am Tag runter, kostet ihn das 1.000 Mark im Monat. „Wenn die Preise nochmal angehoben werden, ist das gar nicht mehr machbar“, klagt er und nimmt einen großen Schluck Kaffe.

Den braucht er. Denn es ist 5.30 Uhr morgens. Draußen ist es noch dunkel. Seine Nachbarn in Pankow, im Nordosten Berlins, schlafen noch tief und fest. Nur Beier, seine Frau Christa (53) und Hund „Debbie“ sind schon auf den Beinen. Das Marmeladenbrötchen auf dem Tisch lässt er liegen. Ihn interessiert viel mehr das Flugbatt vom „Landesverband Berliner und Brandenburger Verkehrsgewerbe e. V“, das auf dem Küchentisch liegt und in dem zu einer Sternfahrt des deutsches Güterkraftverkehrsgewerbes nach Berlin aufgerufen wird. Der Appetit ist ihm schon lange vergangen.

„Sind doch alles coole Typen“

Kurz vor 6 Uhr wird Beier nervös. „Wir müssen los“, sagt er zu seiner Frau. Denn ab 7.30 Uhr, so der vorgesehene Ablauf, kann die sechsspurige Berliner Straße des 17. Juni in Richtung Brandenburger Tor jeweils dreispurig befahren werden.Weil seine Frau nur einen Teilzeitjob in einer Bäckerei hat und nebenbei – unentgeltlich – die Buchführung für seine Fahrten erledigt, ist es für sie selbstverständlich, ihren Mann bei seinem ersten öffentlichen Protest zu begleiten.

Kurz nach 6 Uhr legt Beier den ersten Gang in seinen Laster „MAN“ – Baujahr 1988, Tachostand 500.000 km – ein. Eingepackt sind Kaffee, geschmierte Brote und die Morgenzeitung. „Ich bin schon ein klein bisschen aufgeregt“, gesteht Beier, der bis kurz nach der Wende Taxifahrer war und dann auf einen Laster umsattelte. Sich wie die Beiers in den letzten Tagen im Fernsehen alle Sendungen anzugucken, die mit dem Thema Sprit zu tun haben, ist eine Sache. Selbst ins Fernsehen zu kommen, eine andere. „Das ist mal was anderes“, sagt Beier. Und schließlich haben Fahrer in anderen europäischen Ländern vorgemacht, was machbar ist.

Beier denkt zwar nicht an brennende Autoreifen und auch nicht an quer gestellte Wagen. Trotzdem hat er „ein Quäntchen Optimismus“, dass die Sternfahrt, zu der der „Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) e. V.“ aufgerufen hat, was bringt. „Die in Frankreich haben ja auch was bewegt“, sagt er anerkennend. Seine Frau erinnert sich auf der Fahrt Richtung Stadtzentrum auf ihrem luftgefederten Beifahrersitz an die Subventionen zu DDR-Zeiten. „Da wurden von den 1,50 Mark pro Liter 80 Pfennig subventioniert.“ Nein, die alten Zeiten wollen die Beiers nicht zurück. Selbst die Ökosteuer findet Jürgen Beier „von der Sache her nicht verkehrt“. Aber: „Die Belastung des Einzelnen, sprich bei mir, ist immens.“ Deshalb müsse ein Ausgleich her für die, die vom Fuhrgeschäft leben.

Kurz vor 7 Uhr erblicken die Beiers die ersten Polizeiwannen. In Reih und Glied stehen mehrere Dutzend in Seitenstraßen, auf dem Dach Blaulicht. „Oh, oh, guck mal“, sagt Christa Beier, die auch zum ersten Mal auf dem Protesttrip ist. Beamte stellen die ersten Straßensperren kurz vor der Straße des 17. Juni auf, die schnurgerade zum Brandenburger Tor führt. Punkt 7 Uhr parkt Beier seinen Laster an der Siegessäule, knapp zwei Kilometer vom Brandenburger Tor entfernt.

Beier ist enttäuscht. Gerne wäre er direkt bis vors Brandenburger Tor gefahren. Denn seit zwei Monaten schon steht sein Laster still. Die Handelskette, für die er Wasser und Saft von Brandenburg in 150 Berliner Geschäfte geliefert hat, wurde von einer anderen Kette übernommen. „Die haben ihre eigene Logistik.“ Doch bis Berlins Wahrzeichen haben es nur sechs Laster geschafft. Sie haben der Polizei ein Schnippchen geschlagen, indem sie vor den Sperrungen da waren. Die beiden Beamten, die an ihnen vorbeipatrouillieren, denken nicht im Traum daran, sie zum Wegfahren aufzufordern. „Es würde mir widerstreben, die Leute mit der Härte des Gesetzes zu strafen“, bekennt einer der Ordnungshüter. „Bei mir rennen die offene Türen ein, ich habe auch einen langen Anfahrtsweg zur Arbeit.“ Und: „Das sind doch alles coole Typen.“

Die, die nicht schon Mitternacht, sondern „erst“ in den frühen Morgenstunden angerollt kommen, parken fein säuberlich auf der Straße des 17. Juni. Hunderte von Trucks und Reisebussen stehen in Reih und Glied auf den rechten und linken Spuren der sechsspurigen Straße. All die Laster, die sonst „Spezialitäten für Neumöbel“, „Die 5 Minuten-Terrine“, „Kühl,- Tiefkühl- und Lebensmittel“, Autos oder „Duschwände, Whirlpools, Waschtische und Spiegelschränke“ transportieren, haben exakt so geparkt, wie es in einem „Merkblatt für Fahrer“ vorgeschrieben ist. „Bei der Aufstellung der Fahrzeuge ist ein Abstand von maximal 50 cm zum vorausfahrenden und zu seitlich parallel stehenden Fahrzeugen einzuhalten.“

Vorschrift ist Vorschrift

Wer sich noch irgendwie in die Schlange der parkenden Lkws reinquetschen will, wird von der Polizei zur Weiterfahrt aufgefordert. Auch wenn der Frust der Fahrer groß ist, akzeptieren sie die Anweisungen. Vorschrift ist eben doch Vorschrift, da kann der Ärger noch so groß sein. Und Frankreich mit seiner weniger zurückhaltenden Mentalität ist weit. Obwohl etwa 3.000 Laster, Taxen, Traktoren und Busse aus ganz Deutschland angereist sind und die Ost-West-Achse der Hauptstadt blockieren, ist der Frust wenig greifbar. Tonangebend ist das Gezwitscher der Vögel aus dem angrenzenden Tiergarten, das nur von gelegentlichem Autohupen oder Fahrradklingeln unterbrochen wird. Autofahrerprotest zum Piepen.

Auf der Mittelspur, die die Polizei für Rettungsfahrzeuge freihält, eilen Mitarbeiter von Mercedes Benz zwischen den Fahrzeugen hin und her und verteilen Frühstücksbeutel. Inhalt: ein Käse- und ein Salamibrötchen, eine Dose Cola, ein Truck-Sticker und ein Riegel, der Arbeit, Sport und Spiel verspricht. „Das bringt doch so nichts“, schimpft ein Fahrer. Sein Vorname, Mario, blinkt mit rot-grünen (!) Lämpchen im Führerhaus. So wie der 37-Jährige sind viele andere Trucker stinksauer über die polizeilichen Anordnungen. Was sie wollen, sind schließlich bessere Arbeitsbedingungen und keine geordneten Verhältnisse auf einer Protestveranstaltung. „Auch die Pkw-Fahrer müssten mitmachen“, schimpft der 37-Jährige weiter. „Von so einer Aktion werden die doch nicht wach.“ Daran ändert auch der vermessene Vergleich eines Ostlers nichts: „Als wir 1989 auf die Straße gegangen sind, hat auch keiner gedacht, dass es was bringt.“

Die – das ist die rot-grüne Regierung mit ihrer Ökosteuer. Und die bekommt ihr Fett auch auf Plakaten und Transparenten weg. „Wir sind keine Kühe, die sich melken lassen“, „Die haben ein Rad ab in Berlin“, „Unsere Existenz steht auf dem Spiel“, „Sind Holzmänner mehr wert als Fuhrmänner?“ oder „Kanzler – Es reicht!“. Am häufigsten finden sich die Worte „Ruin“ und „Trittin“ – gelegentlich mit nur einem t geschrieben. Einige Schilder hingegen lassen den Verdacht aufkommen, dass sich der eine oder andere Fahrer, der um seine Existenz bangt, mit dem Gedanken trägt, unter die Dichter zu gehen. „Jetzt ist Ende, jetzt ist Schluß. Teurer Diesel bringt Verdruß“ oder „Die Tanks sind leer, die Nerven blank, ändert was, sonst sind wir krank.“ Nur auf einem großen Transparent geht es jedoch richtig zur Sache: „Heute sind wir noch friedlich, morgen ist es anders“, heißt es da. Eifrig notieren sich Polizisten diese und andere Parolen.

Zwei Fahrer aus Thüringen, die seit drei Stunden hinter ihrem Steuer sitzen und gegen die Langeweile kämpfen, schimpfen nicht nur über die Ökosteuer, sondern auch über die Radfahrer, die sich auf dem Mittelstreifen ihren Weg bahnen und für den Frust der Lastwagenfahrer gelegentlich nur den Stinkefinger übrig haben. „Sollen die doch mal 24 Tonnen auf ihrem Rücken bewegen!“, schimpft der eine. „Hättste ihn mal gefragt, wie sein Rad in den Laden gekommen ist“, ergänzt sein Kollege und schickt dem Radfahrer einen verachtungsvollen Blick hinterher.

Eine Begegnung der dritten Art hat eine Künstlergruppe aus Glasgow, die auf der Fahrt rein in die Stadt in dem Konvoi stecken geblieben ist. Obwohl sie mit dem Protest der Fahrer wenig am Hut haben, sind sie nicht sauer. Im Gegenteil. Mit ihrne zwei Meter hohen Männerfiguren aus Glasfaser, „Explorern“, sind sie auf der Suche nach öffentlichen Orten, die „im Übergang“ sind. Dass der eine oder andere König der Landstraße meint, in den Plastikgesichtern Schröder oder Trittin zu erkennen, erheitert die Künstler nur.

Lieblingssänger der Berufsgruppe

Für das stundenlange Warten und Nichtstun werden die rund 7.000 Demonstranten schließlich um 12 Uhr auf der Bühne hinter dem Brandenburger Tor mit einem ungeladenen Gast belohnt: Gunter Gabriel, Lieblingssänger der Berufsgruppe. Der, der seit dreißig Jahren Noten für die Straße produziert, kann nicht verstehen, warum er nicht eingeladen wurde. So ist er halt von allein gekommen und singt zur Gitarre Texte, die den Demonstranten wie Öl runtergehen. Darin geht es um „schwielige Hände am Lenkrand“, „Straßenhunde“ und um den „Trucker als Deutschlands besten Mann“: „Wir alle sind sehr stolz auf dich, Fahrer, du bist Deutschlands allerbester Mann“, singt er so lange, bis es auch der Letzte glaubt.

Selbst FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle, der mit seinem Anzug zwischen den Lederwesten und Anoraks auffällt und immer mal wieder guckt, ob ihn nicht doch jemand erkennt, wippt mit dem Fuß. „Ich bin als Demonstrant hier“, sagt er kurz angebunden. Ansonsten beschränkt er sich bei den folgenden Reden darauf, zu klatschen. An den Stellen, wo es gegen die Bundesregierung geht.