Das Staunen über unglaubliche Klänge

■ Vor 40 Jahren hat Luigi Nono eine Oper über Neonazismus geschrieben. „Intolleranza 1960“ ist leider noch immer aktuell und zugleich eine der großen Opern des 20. Jahrhunderts. Am Bremer Theater wird sie jetzt inszeniert

Die Uraufführung von Luigi Nonos Oper „Intolleranza 1960“ bewirkte 1961 im Teatro la Fenice in Venedig einen politischen Theaterskandal von seltenem Ausmaß. Inzwischen ist das Werk, das sicher als eine der großen Opern des 20. Jahrhunderts gilt und in einer Linie mit Arnold Schönbergs „Moses und Aron“, Alban Bergs „Wozzeck“ und „Lulu“ und Bernd Alois Zimmermanns „Die Soldaten“ zu nennen wäre, über achtmal inszeniert worden. Die letzte Aufführung fand 1992 in Stuttgart statt. Der 1924 in Venedig geborene Komponist und Kommunist Luigi Nono hat bis zu seinem Tod 1990 darunter gelitten, dass seine politischen Freunde sein Komponieren nicht verstanden und seine Komponistenkollegen nicht sein politisches Engagement. In „Intolleranza“ befasst er sich anhand der Geschichte des „Emigranten“ mit dem Bergwerkunglück 1960 in Belgien, den Volksdemonstrationen 1960 in Italien, dem algerischen Freiheitskampf, den Poüberschwemmungen und verschiedenen Formen rassischer Intoleranz und des Neonazismus. Das besonders für den Chor immens schwere Werk studiert der erste Kapellmeister Gabriel Feltz zurzeit im Bremer Theater am Goetheplatz ein.

taz: Herr Feltz, erst einmal eine pauschale Frage: Was ist das größte Problem für die Einstudierung von „Intolleranza“?

Gabriel Feltz: Die Realisierung der Chorpartie, die wahrscheinlich die schwerste in der gesamten Musikgeschichte ist. Es ist das Nonplusultra, ich kenne nichts Vergleichbares. Hier haben der Chorleiter Theo Wiedebusch und ich zusammengearbeitet, ich selbst habe 88 Chorproben gemacht. Wir proben seit über einem Jahr.

So etwas hat ja Folgen für die organisatorischen Abläufe eines Theaters?

Ja, immens. Nicht alle im Haus waren für diese Aufführung, es hat auch Widerstand gegeben. Aber mit Hilfe des Chefdisponenten habe ich schon Monate vorher alle Chorproben festgesetzt, den Chor auch geteilt. Dann haben wir die Aufnahmen für die Zuspielbänder bei Radio Bremen hergestellt. Sogar der Extrachor, also Laien, sind beteiligt. Es ist besonders rhythmisch unvorstellbar schwer, aber nachdem Stuttgart die Messlatte angelegt hatte, haben wir diesen Ehrgeiz entwickelt. Und es klappt.

Was ist für Sie die Qualität von Nonos Musik?

Viel zeitgenössische Musik ist so modisch, so halbpopulär mit einem überdeutlichen Bezug auf Berg und Mahler. Nono hingegen – das Stück ist immerhin vierzig Jahre alt – ist von einer Frische und Modernität, das ist einfach neben der Musik von Bernd Alois Zimmermann einmalig. Wir staunen stets von neuem über diese unglaublichen Klänge. Ich finde, das muss einfach so werden wie „La Traviata“, es ist ja auch sehr melodisch. Nono steht ganz in dieser italienischen, venezianischen Tradition, man hört ja „Turandot“ und anderes mehr.

Nonos Stück – wie seine ganze Arbeit – lebt aus den gesellschaftlichen Bewegungen der sechziger und frühen siebziger Jahre. Sie sind gescheitert, wie wir heute wissen. Wie sehen Sie das heute als Angehöriger einer nachfolgenden Generation?

Das ist in der Tat nicht unproblematisch. Die Demonstranten von damals sitzen heute in den Führungsetagen der Konzerne. Mich interessiert schon Nonos Naivität, den damaligen Osten so anzupreisen. Aber er hat Schostakowitsch getroffen und ist dann wohl ins Nachdenken gekommen. Die Aktualität des Stückes allerdings bleibt: Es ist die Gewalt von Mensch zu Mensch, dieses hat sich in keiner Weise geändert, sogar im Gegenteil. Es muss nur heute anders gesehen werden.

Sie haben vorhin den Populismus einiger jüngerer Komponisten angesprochen. Was ist denn eigentlich der Unterschied zu Nono? Ich spreche jetzt keine Wertungen an, sondern frage nach Zeitwenden.

Wir stehen heute in einer Situation, dass viele merken müssen, dass sie mit fetter Dickleibigkeit nicht mehr lange hinkommen. Das betrifft natürlich auch die künstlerischen Produkte. Und da ist Nonos Musik einfach viel aufregender als vieles andere, jetzt Geschriebene.

Wie ist es mit dem Zusammenhang mit der Inszenierung? Häufig genug erleben wir zwei unabgesprochene Arbeiten nebeneinander, die im letzten Moment zusammengeschmissen werden. Stellt sich das Problem bei „Intolleranza“ anders?

Ja, schon. Das kann man nicht nebeneinander her machen. Hans Kresnik und ich sind sehr behutsam aufeinander zugegangen, weil wir beide wissen, wie heikel und labil das ist. Ich bin sehr froh, wie stark er auf die Musik hört.

Fragen: Ute Schalz-Laurenze

Die Premiere von Hans Kresniks Inszenierung von „Intolleranza 1960“ findet zur Spielzeiteröffnung des Bremer Theaters am 1. Oktober im Theater am Goetheplatz statt und beginnt um 20 Uhr.