britischer cargo-kult:
von KATHRIN PASSIG
Cargo-Kulte sind religiöse Bewegungen auf irgendwelchen Pazifikinseln, wo im Zweiten Weltkrieg Amerikaner stationiert waren. Nach deren Abreise begannen die Eingeborenen die fremden Götter und ihren wunderbaren Reichtum an Zivilisationsgütern, das „Cargo“, zu vermissen. Um das alles wieder herbeizulocken, rodete man den Urwald für kleine Landebahnen und bastelte Lagerschuppen und Flugzeuge aus Holz und Stroh. Jetzt sitzt man mit hölzernen Funkgeräten ausgerüstet herum und wartet auf die Wiederkunft der Götter. Es ist die äußere Ähnlichkeit der Funkgeräte, Flugzeuge und Landebahnen, auf die es ankommt, und wenn man nur etwas Geduld aufbringt, wird sie ihre Wirkung nicht verfehlen.
Man muss aber nicht bis in die Südsee reisen, um diese possierliche Religion zu studieren: Ganz Großbritannien wird nach den Regeln eines Cargo-Kults betrieben. Touristen sticht das Prinzip zuerst bei den sanitären Anlagen ins Auge. Seifenablagen in der Dusche, denen das Entwässerungsloch in der Schale fehlt, ahmen die kulturellen Errungenschaften fremder Länder so oberflächlich und funktionslos nach wie die britischen Duschen selbst. Die Kodierung rot/blau zur Kennzeichnung wärmeren und kälteren Wassers hat ihre ursprüngliche Bedeutung verloren und dient als rein dekorative Beschwörungsformel. Wer Einheimische bei der Körperpflege beobachtet, wird feststellen, dass das Konzept des Gebrauchs angenehm temperierten Wassers zur Reinigung insgesamt unverstanden bleibt. Eventuell ist das ganze britische Badezimmer letztlich zu religiösen Andachtszwecken und nicht zum tatsächlichen Gebrauch eingerichtet. Warum sonst würde irgendwer sein Bad mit Teppichfliesen auskleiden?
Vage Nachahmungen zivilisatorischer Annehmlichkeiten ziehen sich auch sonst durchs britische Alltagsleben. Züge haben Türen, die sich von innen nicht öffnen lassen, sodass Fahrgäste das Fenster herunterkurbeln und den Türgriff von außen betätigen müssen, wenn sie aussteigen wollen. Vermutlich muss man froh sein, dass der Zug überhaupt Passagiere befördern kann und sich nicht gleich als leeres Pappmodell durchs Land bewegt. Britisches Brot wird von Bäckern konstruiert, die Brot nur von Abbildungen kennen. Im Supermarkt kann man für ein Pfund eine Rabattmarke kaufen und in ein 30-Marken-Heft kleben, für das man 30 Pfund bekommt, wenn es voll ist – nicht mehr und nicht weniger. Und weil auf dem Kontinent Teile von Pflanzen neben dem Essen liegen, werden Teile von Pflanzen aufgetischt, manche roh, andere totgesotten, und bisweilen sogar mitgegessen. Denn wer brav sein Gemüse aufisst, der wird irgendwann ein Europäer und bekommt eine nicht mehr ganz so weiße Haut.
So sitzen die Bewohner Britanniens in ihren aus Hasendraht und Pappmaschee errichteten Hausattrappen vor ihren elektrisch flackernden Plastik-Kaminattrappen und harren der fremden Götter in ihren Himmelsvögeln. Aber auf mein Cargo können sie lange warten, das bleibt erst mal hier. Denn ich zürne und fordere realistischere Dusch-Altäre!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen