Milošević setzt auf Zeitgewinn

Auf ein solches Fiasko war das Regime nicht vorbereitet. Für die Mehrzahl der Serben ist Jugoslawiens Präsident nur noch ein „unerwünschter Diktator“

aus Belgrad ANDREJ IVANJI

Die jugoslawische Bundeswahlkommission hat entschieden: Es geht in die Stichwahl am 8. Oktober. Die staatlichen Hauptnachrichten gaben am Dienstagabend bekannt, dass Präsident Slobodan Milošević rund 40 Prozent der Stimmen erhalten habe, Vojislav Koštunica von der „Demokratischen Opposition Serbiens“ (DOS) 48 Prozent – also keine absolute Mehrheit für den Herausforderer.

Der Chef der Milošević-Sozialisten in Belgrad, Ivaca Dacić, gab eine Niederlage der regierenden „Linkskoalition“ auf lokaler Ebene zu. Er zeigte sich sichtlich zufrieden wegen der gewonnenen absoluten Mehrheit in beiden Kammern des Bundesparlaments und hoffte auf einen Sieg Milošević’ in der zweiten Runde der Präsidentenwahl. Die Mehrheit im Bundesparlament gewann Milošević, weil die Regierung der westlich orientierten Teilrepublik Montenegro die „undemokratischen und verfassungswidrigen“ Wahlen boykottierte.

„Das ist eine schlichte Manipulation“, sagte am Abend Zoran Djindjić, Chef des Wahlstabs von Koštunica und Vorsitzender der Demokratischen Partei. „Wir haben über 98 Prozent des abgegebenen Stimmen gezählt, und Koštunica hat mehr als 600.000 Stimmen Vorsprung. Was Milošević da macht, ist Zauberei.“ DOS werde fordern, die Wahlprotokolle zu vergleichen, denn außer bei den Ergebnissen der Präsidentenwahl stimmten alle anderen Resultate von DOS und der Bundeswahlkommission überein, so Djindjić. Das Regime habe also einfach die Wahlbeteiligung verringert.

„Wir werden dieses Ergebnis unter keinen Umständen akzeptieren. Das sind wir unseren Wählern schuldig. Wir können mit den Stimmen von 600.000 Bürgern kein Glücksspiel betreiben. Das sind keine Kartoffeln, die man von einem Sack in den anderen schüttet.“

Alle DOS-Führer trafen sich Dienstagnacht bei einer Krisensitzung, um zu beraten, wie man auf die „Provokation“ des Regimes reagieren soll. Und gestern stand die Entscheidung fest: DOS wird die Herausforderung des Regimes annehmen. Immerhin hat man schon vorher für Mittwochabend die Bürger Belgrads und ganz Serbiens aufgerufen, den Sieg von Koštunica vor dem Bundesparlament zu feiern. Diese Feier könnte sich in einen Massenprotest gegen die „betrügerische“ Manipulation der Wahlkommission verwandeln.

Slobodan Milošević ist sichtlich verwirrt. Eine knappe Wahlniederlage hatte er schon einkalkuliert, die ließe sich noch zurechtbiegen, mit längst eingeübter Wahlfälschung, mit einer Medienoffensive und gut dosierter Anwendung von Gewalt. Das ist ihm bis jetzt immer gelungen. Aber auf ein solches Fiasko war er nicht vorbereitet. Nahezu zwei Drittel des Volkes haben sich gegen ihn ausgesprochen. Der „geliebte Volksführer“ hat sich als ein „unerwünschter Diktator“ entpuppt. Seine sonst so gut organisierten Sozialisten, die gleichgeschalteten Medien, die von ihm kontrollierten staatlichen Institutionen, Polizei und Armee warten immer noch auf Anweisungen, hüllen sich in Schweigen. Und mit jeder Stunde, die Milošević verstreichen lässt, steigt das Selbstbewusstsein der Opposition.

Auf den Straßen Belgrads, in Kneipen und Geschäften hört man so offen und laut wie nie zuvor trotzige Bemerkungen: „Jetzt haben wir es ihm gegeben, dem Schuft“, sagt ein Tabakhändler jedem Kunden, der ihn anhören möchte. Und selbst wenn die Polizei knüppelt, er werde sich in den ersten Reihen befinden, sich „opfern für eine bessere Zukunft seiner Kinder“.

Doch die Erfahrung bei bisherigen Massenprotesten hat gezeigt, dass die Demonstranten Hals über Kopf weglaufen, wenn die gefürchteten Spezialeinheiten der Polizei in voller Kampfausrüstung in Reih und Glied erscheinen.

Mit dem Entschluss der Wahlkommission, den Sieg Koštunicas in der ersten Runde nicht zu akzeptieren, stellt Milošević erstens die Entschlossenheit der heterogenen Demokratischen Opposition Serbiens (DOS) auf die Probe, sich frontal dem Regime zu widersetzen. Zweitens will er ein wenig Zeit gewinnen, um die eigenen, verunsicherten Reihen zu schließen. Doch nicht nur die Opposition und ihre Anhänger sehen sich herausgefordert, sich der Polizei zu widersetzen. Auch die Treue von Milošević’ Gefolgsleuten wird sich beweisen müssen. Den Leuten an der Spitze des Regimes drohen nach der Wende Strafverfahren, und sie wären wahrscheinlich bereit, notfalls mit nackter Gewalt zu versuchen, sich an der Macht zu halten, um die eigene Haut zu retten.

Doch die meisten Vertreter des Regimes dürfen immer noch hoffen, nur ihre Privilegien zu verlieren und ansonsten ungeschoren davonzukommen. Koštunica hat glaubwürdig versprochen, dass er jegliche Revanche verhindern würde. Erst mal ist Milošević wieder am Zug.