Das Ende der Solidarität

Riesters Reform wird eine Spirale der Zwänge in Gang setzen, die langfristig die staatliche Rente zerstört. Am Ende steht dann die komplette Eigenvorsorge

Mit den Niederlanden gibt es ein Vorbild: Der Wechsel zu einer steuerfinanzierten Grundsicherung gelang

Ein Rentenniveau von 67, 64 oder auch 60 Prozent – die Öffentlichkeit verfolgt die Rechenakrobatik der Reformentwürfe und Konsensrunden seltsam gleichmütig. Auch heute finden wieder Gespräche zwischen Union und Koalition statt, die in der Gesellschaft kaum Resonanz auslösen dürften. Dabei bedeutet das aktuelle Reformpaket von Arbeitsminister Riester einen Systemwechsel: Es ist der Anfang vom Ende der gesetzlichen und umlagefinanzierten Rente. Altersarmut und Ausgrenzung werden zunehmen – und gleichzeitig zerstört die Politik unter dem Banner der Eigenvorsorge jene kulturellen Wurzeln, auf denen eine solidarische Alterssicherung künftig beruhen könnte.

Endgültig vorbei sind die Zeiten einer Lebensstandardsicherung im Alter. Dies versprach das bisherige Rentenniveau von 70 Prozent – sofern 45 Erwerbsjahre lang zumindest ein durchschnittliches Einkommen erzielt wurde. Die zweijährige Inflations- statt Nettoanpassung reduziert das Rentenniveau auf 67 Prozent. Eine weitere Reduzierung auf 64 Prozent ist geplant.

All dies klingt unspektakulär. Tatsächlich aber gelingt es der Hälfte der Männer und neun von zehn Frauen nicht, 45 Erwerbsjahre bei durchschnittlichem Einkommen zusammenzubekommen. Künftig wird daher eine Mehrheit nur noch eine gesetzliche Rente in der Höhe des Sozialhilfesatzes erhalten. Dies heißt nicht, dass eine massenhafte Armut im Alter zu erwarten wäre. Denn viele setzen längst auf eine ergänzende private Vorsorge. Doch die Spaltung in öffentliche und private Altersvorsorge bewirkt, dass jene, die eine Ergänzung zur staatlichen Rente besonders nötig hätten, sich diese trotz Riesters Sparprämien nicht leisten können.

Man mag einwenden, dass der Sozialstaat unter dem Druck der Globalisierung keine umfassenden Lebensstandardgarantien mehr gewähren kann. Ohnehin ist in einer individualisierten Gesellschaft eine Sozialpolitik, die auf (Einkommens-)Gleichheit zielt, nicht mehr konsensfähig. Doch die jetzige Reform schlägt selbst dem bescheidenen Ziel ins Gesicht, Ausgrenzung und Armut zu verhindern.

Denn die Legitimationsprobleme der gesetzlichen Rente spitzen sich zu. Ihre soziale Akzeptanz beruhte darauf, dass auch Gutverdienende von ihr profitierten, die eine staatliche Rente gar nicht brauchen. Dies gilt künftig nicht mehr. Das Gleichgewicht von Leistung und Gegenleistung ist aus den Fugen geraten. Anders als in ausschließlich beitragsfinanzierten Systemen hängen die Renten hierzulande nicht allein von den individuellen Beiträgen ab, sondern vom politisch definierten Rentenniveau. Jede Niveaureduzierung verschlechtert das Beitrags-Leistungs-Verhältnis. Ein Durchschnittsverdiener muss heute mindestens 28 Jahre Beiträge entrichten, um überhaupt eine dem Sozialhilfesatz (inklusive Warmmiete) entsprechende Rente zu erhalten. Für ein Ehepaar mit nur einem Einkommen sind über 40 Berufsjahre erforderlich, um im Alter auf Sozialhilfeniveau leben zu können. Warum aber sollen Niedriglohnbezieher über 30 oder 40 Jahre hinweg Beiträge für eine Rente zahlen, auf die sie als Sozialhilfe ohnehin einen Anspruch haben? Warum sollen Gutverdienende mit steigenden Beiträgen eine umlagefinanzierte Rente unterstützen, die von der Politik unattraktiv gestaltet wird, wenn sie gleichzeitig die jedenfalls momentan hohen Erträge einer kapitalgebundenen Eigenvorsorge im Blick haben?

Weitere Rentenniveauabsenkungen und mehr Altersarmut werden den Druck verstärken, die kapitalgebundene Eigenvorsorge obligatorisch zu gestalten und erheblich auszuweiten. Das heute allerorten proklamierte Mix aus umlagefinanzierter und kapitalgebundener Rente kippt dann in das Extrem einer vorwiegend kapitalgebundenen Alterssicherung um, die weltweit nur in Chile und Kasachstan praktiziert wird. Die Akzeptanz der umlagefinanzierten solidarischen Rente gerät solchermaßen in einen doppelten Würgegriff: Wer gut verdient, der kündigt seine Loyalität gegenüber einer solidarischen Alterssicherung auf, die ihm nicht mehr nutzt. Gleichzeitig wächst der Hass der Geringverdienenden auf jene, die trotz größerer Erwerbsarbeitslücken qua Sozialhilfe eine vergleichbare Alterssicherung beanspruchen.

„Nur wer arbeitet, soll auch essen“ – dieser Gedanke spukt nicht nur in den Hirnen von Skinheads herum

Dieser zweifache Loyalitätsentzug bedroht die kulturellen Voraussetzungen für eine künftige beitrags- oder steuerfinanzierte Grundsicherung im Alter. Mit den Niederlanden gibt es ein Vorbild, wo ein derartiger Systemwechsel von einer einkommensabhängigen Rente zu einer steuerfinanzierten Altersgrundsicherung gelungen ist. Anders als in den Niederlanden ist die hiesige Sozialkultur aber kaum durch eine universalistische, auf sozialen Zusammenhalt hin orientierte Solidarität geprägt. Stattdessen dominieren Prinzipien der Gegenseitigkeit und der Leistungsgerechtigkeit. „Nur wer arbeitet, soll auch essen“ – dieser Gedanke spukt nicht nur in den Hirnen von Skinheads herum.

Vor dem Hintergrund dieser historisch gewordenen und änderungsträgen Kultur des Sozialen ist es keinesfalls selbstverständlich, dass die Mehrheitsgesellschaft künftig noch solidarisch mit Altersrisiken verfährt. Anders als am Beginn des modernen Sozialstaats ist die soziale Ordnung nicht gefährdet. Die Altersarmen der Zukunft werden sich auf den Fluren der Sozialbehörden treffen, ohne zu einer gemeinsamen politischen Sprache zu finden: Hausfrauen, die über längere Zeiträume wegen Kinderbetreuung oder Angehörigenpflege keiner Erwerbstätigkeit nachgehen konnten. Migranten der Zuwanderergeneration mit geringen Rentenansprüchen. Und ostdeutsche Arbeitnehmer, die in den nächsten beiden Jahrzehnten auf die gesetzliche Rente angewiesen bleiben, weil in der DDR betriebliche Alterssicherungen und private Lebensversicherungen keine Rolle spielten. Soziale Rentenpolitik heißt deshalb, das zarte Pflänzlein solidarischer Gewohnheiten und Rücksichten zu pflegen – auch in Bereichen, die vordergründig gar nicht zum Bereich der Rentenpolitik gehören. „Solidaritätsnetze stärken“ hieße, „Zeit für Kinder“ nicht nur in Werbespots einzufordern. Tatsächlich will Rot-Grün aber trotz anders lautender Rhetorik die Kindererziehung bei der Rente nicht entscheidend stärker fördern, sondern nur eine parallele Erwerbstätigkeit. Angesichts des Zerfalls des traditionellen Wechselspiels von Familie, Staat und Heranwachsenden wird nach mehr elterlicher Erziehung gerufen. Gleichzeitig bildet die Betreuung von Kindern künftig das wichtigste Armutsrisiko im Alter. Lebensentwürfe als Hausfrauen (oder Hausmänner), die über längere Zeiträume wegen Kinderbetreuung oder Angehörigenpflege keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, erhalten so den Ruch sozialmoralisch fragwürdigen Tuns. Solidarität mit Pluralität zu versöhnen heißt demgegenüber, auch die Geschlechtergerechtigkeit einer (Renten-) Politik zu hinterfragen, in der nur Lebensentwürfe akzeptabel sind, die sich der traditionellen männlichen Erwerbsbiografie anpassen. HARRY KUNZ