Obsessive Verzweiflung

■ Weitere Diskussionen zwecklos: Bei Elfriede Jelinek überlebt nur der Hirsch

„Wenn wir gewusst hätten, dass Sie alle kommen, wären wir zu Hause geblieben.“ Mit diesen Worten leitete der Literaturkritiker Robin Detje den Leseabend im Literaturhaus ein. Mit „wir“ meinte er sich selbst und die Schriftstellerin Elfriede Jelinek. Sie kam dann aber doch und bot im ausverkauften Literaturhaus vor allem eines: das Bildnis einer faszinierenden, von Obsessionen beherrschten und zutiefst verzweifelten Frau.

Seit nunmehr 30 Jahren schreibt Jelinek unermüdlich an gegen die Fleißigen, Tüchtigen und Anständigen in ihrem Heimatland Österreich und seiner unerträglichen Provinz, der Urzelle der Gartenzwerge, wie ihr Heimatort Mürzzuschlag. In ihrem neuen Roman Gier. Ein Unterhaltungsroman, hier gelesen von der grandiosen Barbara Nüsse, erwählt sie sich einen geldgeifernden Provinzcasa-nova, um ihren Hass zu beschreiben – und auch ihren Selbsthass, der sich in der schrankenlosen Selbsterniedrigung der mittelalten Frauengestalt Gerti zeigt. Erneut breitet Jelinek ihre Palette an höchster literarischer Stilisierungskunst aus, getragen von abgrundtiefem Sarkasmus. Ein von Geldsorgen geplagter Gendarm mit Namen Kurt Janisch stiehlt in dem Buch wohlhabenden Frauen zuerst ihr Herz, dann ihren Besitz.

Er trifft auf Gerti, eine vom Leben enttäuschte Frau, die ihre romantischen Sehnsüchte in den feschen Gendarmen („wie er uns Frauen eben gefällt“) projiziert und sich dafür von ihm erst sexuell ausbeuten und dann vernichten lässt. Noch ärger ergeht es der sechzehnjährigen Gabi, die sich am Ende sogar in einen biologisch bereits toten See werfen lassen muss.

So steht es aber nicht allein um bedauernswerte Frauen, sondern auch um das unglückliche Austria. Wo Hass und Selbsthass von einem Masochismus konterkariert werden, gehe man aus Angst vor der eigenen Angst vor sich zugrunde, so Jelinek. Unschwer zu erraten, dass der Schurke Kunisch eigentlich der „Haider Jörgl“ ist.

Sie habe das Buch aus Verzweiflung geschrieben, bekennt die Autorin. Um das Phänomen für sich paradigmatisch zu fassen, dass ein mit Erotik und schnellen Autos spielender Mann ein Land in die antidemokratische Erstarrung geführt hat. Wehleidig will sie nicht sein, auch wenn sie genau dies in 30 Jahren nicht hat verhindern können. Ihre Stücke hat sie für die österreichischen Staatstheater gesperrt: „Politisch kann ich nicht mehr sprechen, also stürze ich mich literarisch in die Flamme in einem Selbstverbrennungsakt.“ Einziger Trost an diesem denkwürdigen Abend: An einer Stelle des Romans überlebt ein Hirsch einen schweren Unfall. Eine ganz kleine Utopie. Immerhin. Annette Stiekele