Der Triumph der Veteranin

Heike Drechsler gewinnt die Goldmedaille im Weitsprung, und Marion Jones scheitert am Vorhaben, fünf Mal Gold zu holen

aus Sydney MATTI LIESKE

Als Heike Drechsler vor den Olympischen Spielen gefragt wurde, worauf sie es zurückführe, dass sie am Anfang dieser Saison schon wieder verletzt gewesen sei, nachdem sie im letzten Jahr schon die WM in Sevilla wegen einer Knieblessur kurzfristig absagen musste, gab sie eine seltsame Antwort: „Das war Unerfahrenheit.“ Ein kühner Satz aus dem Mund einer Athletin, die vor 17 Jahren in Helsinki, bei den ersten Leichtathletik-Weltmeisterschaften überhaupt, bereits Gold im Weitsprung gewonnen hatte.

Doch vermutlich ist es gerade dieses Gefühl der Zeitlosigkeit, der völlige Mangel an mentalen Abnutzungserscheinungen, der ihr auch mit 35 Jahren noch die Stärke gibt, bei Olympischen Spielen zu gewinnen. „Olympia motiviert mich immer“, sagte Drechsler, nachdem sie gestern mit 6,99 m ihr zweites olympisches Weitsprung-Gold nach Barcelona 1992 geholt hatte. Bestes Beispiel ist besagte Verletzung. Da habe sie im Training vor lauter Eifer einfach die Warnzeichen ihres Körpers ignoriert und weitergemacht, bis der Muskel riss. Unerfahrenheit eben.

Der Triumph der Veteranin war gleichzeitig der Sturz der zehn Jahre jüngeren Marion Jones. „Gosh, diese Goldmedaille kriegst du nicht“, dachte diese, als sie sich nach ihrem sechsten Sprung umdrehte und den Kampfrichter die rote Flagge heben sah. Umgedreht hatte sich auch Heike Drechsler und mit besorgter Miene den stürmischen Anlauf der US-Amerikanerin verfolgt, mit finsterem Blick den Sprung und mit Entsetzen im Gesicht die Landung, deutlich jenseits der 7-Meter-Marke. Erleichtertes Durchpusten, nachdem der gewaltige Satz ungültig gegeben war. Den letzten Versuch der Italienerin Fiona May betrachtete sie schon wesentlich entspannter, und als auch der ungültig war, konnte sie vor lauter Lachen kaum ihren letzten Sprung absolvieren, der aus lauter Solidarität ebenfalls übergetreten war. Gold: Drechsler, Silber: May, Bronze: Jones.

Marion Jones bereute nichts. „Viele sagen jetzt bestimmt, ich hab’s dir gesagt, ich hab’s dir gesagt“, kommentierte sie das Scheitern am Vorhaben, als erste Person fünf Leichtathletik-Goldmedaillen in einer einzigen Olympiade zu gewinnen, „aber ich kann in den Spiegel schauen und sagen, ich habe es versucht und ich habe einen guten Wettkampf geliefert.“ Beim letzten Sprung habe sie alles auf eine Karte gesetzt, aber Heike Drechsler sei an diesem Tag einfach „die bessere Weitspringerin und verdiente Siegerin“ gewesen. Der Skandal um ihren gedopten Kugelstoßer-Ehemann C. J. Hunter scheint Jones erstaunlich wenig zu beeinträchtigen. Die Frage, ob ihr diese Spiele nach all den Kalamitäten denn noch Spaß machen würden, beantwortete sie jedenfalls streng sportlich. „Spaß macht Gewinnen.“ Aber wenn sie auf ihr „Sydneyerlebnis“ zurückschaue, könne sie sagen: „Es war ein gutes Erlebnis.“ Vor allem, wenn sie heute noch zweimal Gold in den Staffeln gewinne, die sie trotz der gestrigen Niederlage absolvieren will.

Ein gutes Erlebnis war Sydney auch für Fiona May, die bereits vor vier Jahren in Atlanta den zweiten Platz im Weitsprung geholt hatte. „Diese Silbermedaille bedeutet mir mehr“, sagte die Italienerin gestern nicht ohne Bitternis, „denn diesmal war es ein sauberer Wettkampf.“ Das ging gegen die Nigerianerin Chioma Ajunwa, die in Atlanta völlig überraschend gewonnen hatte und inzwischen eine Dopingsperre abbrummt. Diesmal hatte May nichts als Lob für ihre Kontrahentinnen parat. „Heike und Marion werden ewig in den Geschichtsbüchern des Weitsprunges stehen“, sagte sie voraus.

Allzu bald wollen allerdings beide Angesprochene noch nicht auf dem Müllhaufen der Geschichte landen. Marion Jones, nach eigener Einschätzung die Springerin „mit der besten katastrophalen Technik der Welt“, bat sich zwei Jahre Bedenkzeit aus, ob sie in Athen 2004 erneut das Fünffachgold angehen will, Heike Drechsler möchte auf jeden Fall weitermachen, wenn auch nicht bis zu den nächsten Olympischen Spielen. „Es wird von Jahr zu Jahr schwieriger“, räumte sie immerhin ein, doch im Wettkampf habe sie sich so stark gefühlt, dass sie denke: „Noch ein, zwei Jahre ...“ Auch nach 20 Jahren Spitzensport habe sie nicht das Gefühl, dass es ihr zu viel werde. Und wenn sie vielleicht noch diese verdammte Unerfahrenheit abstellen kann, wer weiß, vielleicht reicht es ja doch bis 2004. Schon allein um ihren Sohn zu motivieren, der jetzt elf ist und vom Weitsprung wenig hält. „Er liebt mehr die starken Männer“, verriet Heike Drechsler.

Und wie aufs Stichwort betrat in diesem Augenblick C. J. Hunter den Raum.