„Bei uns war es viel spannender“

Tobias Hülswitt stammt aus Hannover, Jochen Schmidt aus Ostberlin. Beide haben gerade ihr erstes Buch veröffentlicht. Ein Gespräch über ostwestliche und westöstliche Blickweisen, Erinnerungsliteratur, ostalgische Wessis und die Frage: „Findest du es gemein, dass du bei mir nicht vorkommst?“

von TOBIAS HÜLSWITT
und JOCHEN SCHMIDT

Tobias Hülswitt: Ein Unterschied ist, dass die junge westdeutsche Literatur in den letzten fünf Jahren in den Medien viel präsenter war als die junge ostdeutsche. Zum einen, weil die Westmedien lange kein Interesse an junger ostdeutscher Kultur hatten. Zum anderen brauchten die jungen ostdeutschen Literaten durch den biografischen Bruch, den die Wiedervereinigung verursachte, länger dazu, einen gemeinsamen Code zu entwickeln. Inzwischen gibt es diesen Code. Man erkennt ihn an dem Erinnerungswörtchen „mal“, das in den Texten der Ostberliner Lesebühnen ständig vorkommt. Bei Falko Hennig zum Beispiel: „Wie ich mal rausgefunden hab, wie viel Gramm ein Schluck Kaffee wiegt.“

Jochen Schmidt: Diese Schnoddrigkeit kommt vom Vorlesen. Die Kunst besteht darin, das Mündliche ins Schriftliche so zu übertragen, dass es seinen Charme nicht verliert. Und was den Sprachcode betrifft: Noch wichtiger als dieser ist, dass man im Osten jetzt bestimmte Themen, die man vorher nicht beachtete, als literaturwürdig erkannt hat. Man war immer nach Westen orientiert. Über einen Pioniernachmittag hätte man nicht geschrieben, denn das war graue Wirklichkeit und wird erst jetzt interessant. Es fing mit dem Wort „Westpaket“ an, ein Wort, das wir zehn Jahre lang nicht benutzt hatten und das vorher total wichtig war. Man konnte früher jedes Wort auch mit „West-“ bilden: „Westfernsehen“, „Westauto“, „Westhose“. In den Lesebühnen haben wir dann vor jedes Wort wieder ein „West-“ gepackt. Der Effekt nutzt sich jedoch ab, wenn man das dreimal gemacht hat.

Hülswitt: Auch in deinem Buch spielt die Ostvergangenheit eine große Rolle. Rike in der Erzählung „Triumphgemüse“ trägt sie mit sich herum, und in „Chaussee Enthusiastow“ schämt sich Jürgen Reip in Moskau den Russen gegenüber dafür, nun „zur anderen Seite“ – zum Westen – zu gehören, ohne dafür etwas getan zu haben.

Schmidt: Seltsamerweise entgleitet einem das Thema. Ich weiß gar nicht mehr genau, was damals war, obwohl ich es 18 Jahre lang erlebt habe. Je mehr ich darüber schreibe, desto weiter ist es weg. In deinem Buch ist mir als Parallele zum Osten dieser Leerlauf aufgefallen, der in der Jugend stattfindet, weil nichts passiert. Manche kommen in die Psychiatrie, andere gehen nach Berlin. Aber so etwas wie den großen Magneten, der der Westen für uns war, gab es bei euch nicht. Ihr hattet nicht diese alle verbindende Sehnsucht. Und der Osten fehlte in eurem Bewusstsein vollkommen. Wenn die Wiedervereinigung noch länger gebraucht hätte, wäre sie ausgefallen, weil sich niemand mehr für sie interessiert hätte. Wenn ich es mir überlege, kommt mir eure Jugend noch trostloser vor als unsere. Weil ihr den Notausgang nicht hattet. Wir dachten, wir brauchen einfach nur da rauszugehen, dann wird alles besser.

Hülswitt: Beide Literaturen, die neue aus dem Westen und die neue aus dem Osten, sind Erinnerungsliteraturen. Obwohl die Autoren noch so jung sind. Das ist erstaunlich.

Schmidt: Mit dem Erinnern habe ich kein Problem. Ich bin eher zu fantasielos, mir etwas Fiktives auszudenken. Aber ich habe ein Problem, wenn Leute aus dem Westen nach Berlin kommen und über diese Stadt schreiben, bevor ich selber darüber geschrieben habe. Das kommt mir wie eine Usurpation vor.

Hülswitt: Ich habe auch das Gefühl, dass eine Art Kolonisierung stattgefunden hat. Aber das darf ich als Wessi nicht sagen, weil ich mich sonst der Ostalgie schuldig mache, und ein ostalgischer Wessi ist noch viel schlimmer als ein ostalgischer Ossi. Trotzdem wundere ich mich, dass die Empörung über diese Kolonisierung im Osten nicht größer ist.

Schmidt: Ach so? Na ja. Ich räume ein, dass Leute, die von außen kommen, einen speziellen Blick auf Berlin haben. Aber ich finde in diesen Berlinbüchern nicht das Bemühen, sich für den Ort zu öffnen. Annette Gröschner hat mehrere Bände mit Gesprächsprotokollen von alten Menschen, die zum Teil im Prenzlauer Berg leben, veröffentlicht. Das finde ich wertvoller als irgendeinen Erzählungsband, der hier spielt. Mich würde an den Zugezogenen viel mehr interessieren, wo sie herkommen und wie es dort ist! Es ist für mich die schlechte Seite des Pop, wenn Berlin, wie in Tim Staffels Buch „Terrordrom“, nur noch so eine Hollywood-Kulisse ist.

Hülswitt: Das ist für mich kein Problem. Es geht in „Terrordrom“ doch nicht um Berlin, sondern um die Mediengesellschaft. Berlin liefert bloß den Hintergrund.

Schmidt: Aber Berlin wird als Verkaufsmotor benutzt. Weshalb kann Staffel nicht irgendetwas anderes nehmen? Berlin ist doch meine Stadt! Meine Reaktion ist natürlich reines Ressentiment. Solche Gefühle muss ich pflegen, weil sie Impulse zum Schreiben sind. Das ist gegen niemanden persönlich gerichtet. Aber zurück zu der Frage, warum nun die Aufmerksamkeit für unser Ost-Schreiben geringer ist. Hier liest einfach niemand. Von den Leuten, die ich aus meiner Generation kenne, liest keiner.

Hülswitt: Ist dir der Held aus Falko Hennigs Buch „Alles nur geklaut“ näher als der aus meinem Roman „Saga“?

Schmidt: Die Erfahrungen, die Falko Hennigs Held macht, kenne ich natürlich. Aber näher? Hennig lässt sich nicht groß über Gefühle und Psychologisches aus. Bei dir gibt es viele Stellen, in denen es um Sprache geht – wie wurde etwas früher gesagt, wie heute? Es hat etwas Manisches, das noch ausgebaut werden könnte. Es wird viel geredet und man fragt sich, in welche Richtung es geht. Der Erzähler ist in einer Erinnerungsmühle drin. Das ist nicht unbedingt gesund. Und so etwas findet man bei Falko Hennig sicher nicht. Er ist ja der Meinung, dass nichts einen Schriftsteller von einem Journalisten unterscheidet. Beide recherchieren nur. Er ist unbeleckt von romantischen Vorstellungen des Schriftstellertums. Und das ist mir nicht nahe, weil ich absolut an das Kunstwerk glaube. Aber warum soll ich mich eigentlich in einem Buch wiederfinden? Gut, wenn ich in den ostdeutschen Lesebühnen bin und die Leute lachen über Dinge, die ich auch erlebt habe, entsteht Gemeinsamkeit. Mit einem rein westdeutschen Publikum würde sich ein solches Gefühl nie einstellen.

Hülswitt: Genau dieses Spezifische interessiert mich an junger ostdeutscher Literatur. Der Humor, der anders ist als im Westen. Mehr Augenzwinkern. Mehr Unschuld. Obwohl ich das auch nicht sagen darf. Ich habe einmal riesigen Ärger bekommen, als ich einen Essay mit den Worten enden ließ, das Händeschütteln sei eine sehr schöne Geste, die sich im Osten bis heute gehalten habe. Die Frage ist, warum die junge Ostliteratur ihr Spezifisches und damit ihre Stimme erst jetzt entdeckt.

Schmidt: Ich bin durch die Lesebühnen darauf gekommen, DDR und Wende als Material zu benutzen. Davon hat man sich früher immer abgestoßen. Jetzt erschreibe ich mir das quasi rückwärts. Dabei habe ich manchmal ein schlechtes Gewissen, denn die etwas Älteren haben schlimme Geschichten über die DDR zu erzählen, und vielleicht kränkt es sie, wenn jetzt über diese Zeit gelacht wird.

Hülswitt: Wir im Westen hatten Angst, über uns zu schreiben, weil uns immer gesagt wurde: Worüber wollt ihr denn schreiben, ihr habt doch außer Fernsehen nichts erlebt. In Wirklichkeit wurde es interessant, als Leute anfingen, über dieses Nichts zu schreiben.

Schmidt: Es ist ja auch nicht nichts passiert. In einem selbst ist schließlich die ganze Pubertät passiert. Man hat natürlich keine Abenteuer erlebt. Aber warum soll man das nicht als Material benutzen können? Und wenn sie sich wirklich um Fernsehen drehte, wäre junge westdeutsche Literatur für mich interessant, denn ich habe dieselben Sendungen gesehen. Aber wenn ich reinlese, merke ich bloß, dass ich nicht darin vorkomme.

Hülswitt: Findest du es gemein, dass du in meinem Buch nicht vorkommst?

Schmidt: Nein, das ist doch normal. Es ist richtig, wenn jemand seine Welt so beschreibt, wie sie war. Und man muss sich ganz unsentimental klar machen, dass zumindest die Jugendlichen in unterschiedlichen Welten gelebt haben. In deinem Buch gibt es zwar eine Reise nach Polen, und da sehe ich, dass ihr mit der gleichen Arroganz in den Osten gefahren seid wie wir in die Tschechoslowakei oder sogar – als Berliner – nach Dresden. Aber das Interesse, das wir für die andere Seite hatten, gab es bei euch nicht.

Hülswitt: Ich werde noch weiter in den Osten ziehen, wenn die neuen Bundesländer so sehr angeglichen sind, dass sich die Leute auch dort nicht mehr die Hand geben.

Schmidt: Verstehe. In Polen oder in Russland erlebe ich heute auch mehr Gemeinschaftssinn oder Fröhlichkeit als hier. Und wo man früher in den Intershop ging, nur um die Gerüche einzuatmen, da geht man heute missmutig durchs Kaufhaus, in dem man diese Gerüche zugeblasen bekommt, und hat überhaupt keine Lust mehr, etwas zu kaufen. Trotzdem begrüße ich es mittlerweile, dass ich jetzt im Westen leben darf. Dadurch habe ich praktisch eine doppelte Erfahrung, die des Ostens und die des Westens. Und ich muss mein Mitleid mit euch unterdrücken, denn bei uns war es viel spannender.

Hülswitt: Mir wird schlecht, wenn sich Schriftsteller auf ihre abenteuerliche Biografie berufen.

Schmidt: In deinem Buch geht es viel um Krankheit. Leute, die durchdrehen oder sich von Türmen werfen. Dabei müssten sie doch eigentlich glücklich sein, da es ihnen äußerlich nicht schlecht geht. Das ist aber offensichtlich zu wenig, wenn man nicht irgendetwas findet, womit man sich im Leben beschäftigen kann.

Hülswitt: Es ist anscheinend sehr schwer, Glück zu akzeptieren.

Schmidt: Und es kommen dort nicht mehr Leute auf die Idee, Kunst zu machen?

Hülswitt: Es werden immer mehr.

Schmidt: Grauenhafte Vorstellung. Nur noch Leute, die dir im zweiten Satz sagen, dass sie auch kreativ sind.

Hülswitt: Dadurch, dass bald jeder dritte einen Schreibkurs gemacht hat, wird das Publikum immer sachverständiger. Das ist doch nicht schlecht.

Schmidt: Bei den Lesebühnen haben wir immer die Mikrofone offen. Das geht oft schief, weil die Texte zu lang oder zu schlecht sind. Aber das Ziel der Surfpoeten ist es, eine immer größere Familie zu werden.

Hülswitt: Das empfinde ich als etwas speziell ostdeutsch Alternatives: überhaupt den Wunsch zu entwickeln, eine Familie zu schaffen, eine Gruppe, in der man sich zu Hause fühlt. Nach meiner Einschätzung wird es so sein, dass daraus etwa fünf Leute hervorgehen, die in der literarischen Welt eine Solokarriere machen werden.

Schmidt: Das zeichnet sich jetzt schon ab. Aber die Philosophie der Surfpoeten ist es eben, eine Sekte zu bilden, „in der es kuschlig ist“, wie Arne Seidel sagt. Und ich habe auch die Hoffnung, dass dies trotz der Veröffentlichungen Einzelner bewahrt wird. Mit fünf, sechs Leuten, die deine Kumpels sind, auf der Bühne zu stehen, ohne Konkurrenz, ohne Neid.