Die Hauptstadt in der Pubertät

von BETTINA GAUS

Blumen für die Hauptstadt. Kinos in der Hauptstadt. Ein Autohaus: „Motor der Hauptstadt“. Das Bonner Studio ist längst Geschichte. Heute arbeiten Fernsehkorrespondenten im Hauptstadtstudio. Berlin ist die Hauptstadt des deutschen Weins. Behaupten deutsche Winzer. Wer will da noch zurückstehen? Am Flughafen Tegel kündet das Werbeplakat eines Energiekonzerns vom neuen Glanz. „Hauptstadtstrom“.

Zehn Jahre nach der deutschen Einheit erinnert die Stadt an einen Jungen in der Pubertät. Je größer die Unsicherheit und je schwächer das Selbstwertgefühl, desto lauter muss er krähen. Die BBC ein Hauptstadtsender? Der Eiffelturm ein Hauptstadtbau? Nicht doch. London und Paris haben derlei Albernheiten nicht nötig. Selbstbewusst und erwachsen stehen sie da. Und Berlin? Schwankt zwischen Spaßgesellschaft und Größenwahn.

Jetzt soll ein Schloss her, als Symbol für beides. Noch vom ungeliebten Kanzleramt in Bonn aus hatte der Sozialdemokrat Gerhard Schröder träumerisch davon geschwärmt, wie gerne er aus dem Fenster auf ein solches Gebäude blicken würde. Diesen Wunsch teilt er mit vielen anderen Republikanern. Planen wir also ein preußisches Disneyland. Mit etwas geringerem Verständnis für die eigene Geschichte als das Vorbild in den USA.

In Berlin steht die deutsche Einheit vor ihrer geistigen Vollendung. Die Ostdeutschen haben ihren Freiheitswillen bewiesen. Die Westdeutschen haben sich in Jahrzehnten an einen gelassenen Umgang mit der Pluralität der Meinungen gewöhnt. Aber es sind nicht diese Erungenschaften, die zehn Jahre nach der deutschen Einheit die Stimmung prägen.

Stattdessen verbindet sich der unerfüllte Wunsch des amerikanisierten Westens nach lockerer Unverbindlichkeit und dem endgültigen Abschied vom berüchtigten, grüblerischem Tiefsinn der Deutschen mit der ebenfalls unerfüllten Sehnsucht des Ostens nach Weltniveau und globaler Anerkennung. Schon in der größten DDR der Welt kam kein Hinweisschild auf Berlin am Rande der Autobahnen ohne den Hauptstadthinweis aus.

Die Melange aus Ost und West hat die Stadt in etwas Merkwürdiges verwandelt: in einen autoritär geführten Lunapark mit wechselnden Öffnungszeiten. Normalerweise ist das Brandenburger Tor für den Autoverkehr passierbar. (Allerdings nur in eine Richtung: von Ost nach West. Hier müssen Verkehrsplaner mit einem beachtlichen Sinn für Symbolik am Werk gewesen sein.) Meistens ist die Stadt also nicht mehr geteilt. Manchmal aber doch, wenn es nämlich gerade praktisch ist. Es ist ziemlich oft praktisch. Wenn ein gefährdeter Staatsgast kommt, wenn Skater durchs Tor rollen wollen oder Neonazis dort aufmarschieren oder wenn Unter den Linden ein Ökomarkt aufgebaut wird.

Hat irgendjemand Lust auf irgendeine Veranstaltung in der Nähe des neuen Zentrums der Macht? Kein Problem. Die Hauptachse zwischen Ost und West lässt sich jederzeit für den Verkehr schließen und bei Bedarf auch gerne zusätzlich noch ein paar Schleichwege. Die Verantwortlichen scheinen zu glauben, dass sich bis heute niemand wirklich dringend zwischen den alten Sektorengrenzen hin- und herbewegen muss. Vielleicht haben sie Recht.

Räumlich ist die Wiedervereinigung der Stadt längst noch nicht vollzogen, auch wenn am Gendarmenmarkt heute nicht mehr Soljanka gegessen, sondern die neue deutsche Küche zelebriert wird. Der Dialog mit dem Heilbutt. Der Osten ist schick, jedenfalls die Bezirke Mitte und Prenzlauer Berg. Viele aus dem politischen Tross haben sich beim Umzug von Bonn nach Berlin hier niedergelassen. Ein Jahr später erzählen sie gerne, dass sie Berlin „spannend“ finden. Was meinen sie damit bloß?

Die politische Klasse bleibt weitgehend unter sich, am Rhein ebenso wie an der Spree. Das ist nicht überraschend. Überall auf der Welt pflegen Gruppen am liebsten den Umgang mit sich selbst. Erstaunlicher ist, dass in zahlreichen Leitartikeln mit dem Umzug die Hoffnung verbunden worden war, in Berlin würden die Politiker nun endlich mit dem real existierenden Leben konfrontiert. Das war von Anfang an naiv, und davon kann auch keine Rede sein.

Erwartungsgemäß haben sich die Neuankömmlinge nicht in den Plattenbauten von Marzahn eingemietet. In den östlichen Renommiervierteln hingegen vertreiben Luxussanierungen immer mehr Alteingesessene. Familien, die es sich leisten könnten, zögen fort, erzählt ein Jugendpsychologe, der in diesen Bezirken arbeitet. Die neue Eleganz sei familienfeindlich. Die Probleme für diejenigen, die bleiben müssen, würden größer.

Die meisten Berliner braucht das nicht zu kümmern. Sie organisieren ihren Alltag wie eh und je – und werden dabei nach wie vor durch durch ziemlich wenige private Kontakte zwischen Ost und West behindert. Auch alte Freundeskreise bleiben gerne unter sich. Allen gemeinsam ist anzumerken, dass sie sich über Jahrzehnte hinweg daran gewöhnt haben, in ihrer Bewegungsfreiheit behindert zu sein. Die Lastwagenfahrer, die sich vor ein paar Tagen zum gemeinsamen Protest in der Hauptstadt versammelt hatten, haben für ihre Demonstration das falsche Mittel oder den falschen Ort gewählt. So viel Chaos lässt sich in Berlin gar nicht erzeugen, dass es auffiele.

Im Juli besucht der iranische Präsident Mohammad Chatami die Hauptstadt. Zwei Tage lang geht nichts mehr. Jede Autofahrt wird zum Glücksspiel, mit schlechten Gewinnchancen. Straßensperrungen werden nicht angekündigt, sondern von einer Minute auf die andere vollzogen. Wie lange ist hier dicht? Der Polizist zuckt die Schultern. Keine Ahnung. Der Verkehr kriecht nicht, er steht. Über Stunden hinweg. An den wenigen Schlupflöchern, die der Blechlawine noch bleiben, wird nicht einmal die Ampelphase geändert oder der Verkehr per Handzeichen geregelt. „Nächste Woche kommt die Queen“, sagt ein Schutzmann zu einer schimpfenden Autofahrerin. Nicht einmal triumphierend. Nur sachlich.

„Selber schuld, wenn du heute mit dem Wagen fährst“, meinen erfahrene Altberliner. Stolz erzählen sie, stattdessen das Fahrrad oder die U-Bahn benutzt zu haben. Wirklich pfiffig – und auch besser für die Umwelt. Aber darum geht es in diesem Zusammenhang nicht. Es geht um die kritiklose Hinnahme der Notwendigkeit, staatlicher Willkür mit individuellen Vermeidungsstrategien zu begegnen. Gemeinhin machen nicht parlamentarische Demokratien, sondern Diktaturen die Bevölkerung in dieser Hinsicht erfinderisch. Dort fällt es den Leuten allerdings wenigstens auf.

Was Autoritäten in Berlin auch immer für erforderlich halten – es hat Vorrang vor den Bedürfnissen des Einzelnen. Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, während des Chatami-Besuchs die gesamte Innenstadt für den Individualverkehr zu sperren. Das ist aber nicht geschehen. Warum sollte man sich erst der Mühe eines solchen Verwaltungsaktes unterziehen? Es wehrt sich ja auch so niemand.

Was immer die Bevölkerung zu tun hat, es kann so wichtig nicht sein. Jedenfalls nicht wichtig genug, dass es sich an Bedeutung mit den Wünschen der Obrigkeit messen ließe. Um die Leute bei Laune zu halten, muss man ihnen lediglich irre viel Spaß verschaffen. Mit den Olympischen Spielen hat es leider nicht geklappt, aber doch wenigstens mit der Fußballweltmeisterschaft. Bonn hat zwar den Bedürfnissen seiner Einwohner größere Aufmerksamkeit geschenkt als Berlin. Aber dafür verfügt es auch nur über kleinere Sportstätten. Da fällt die Wahl nicht schwer. Schöne neue Welt.