Kraussers verkappte Mythologien

Ernüchternder gehts kaum: Menschen sterben, und ihre Seelen warten an einer Bushaltestelle auf den Transport ins Jenseits. Die Zeit bis zur Abfahrt vertreiben sie sich mit dem Beobachten der Lebenden. Weiter reicht die visionäre Kraft von Helmut Kraussers sperrigem Stück Haltestelle. Geister nicht. Bei seiner Uraufführung jetzt am Schauspielhaus bringt Regisseur Jan Bosse das Bedeutungsschwere des Auftragswerks und seine allzu erdlastige Sprache durch Witz und Tempo zum Schweben. Trash-Oper im breiten Stil lautet der Untertitel von Kraussers Stück. Und tatsächlich walzt es unermüdlich den Gefühlsabfall seiner Protagonisten aus: Abgründe aus Hass, Enttäuschung und Gewalt tun sich auf.

Kraussers 15 Figuren treffen sich an einer Bushaltestelle im Nirgendwo. Es sind allesamt Gestrandete, ob aus gesellschaftlichen oder emotionalen Gründen. Später mischen sich die Geister der bereits Gestorbenen unter die Gruppe. Der Tonfall ist drastisch, und irgendwie geht es meistens um Sex oder Drogen, manchmal aber auch um letzte Dinge. Ist der erste Teil noch ganz kurzweilig, weil abwechslungsreich, hat das Stück in seiner zweiten Hälfte doch erhebliche Längen und zerfasert zusehends.

Darüber kann auch Bosses straffe Inszenierung nicht hinwegtäuschen. Und obwohl der Regisseur die Szenen zuweilen mit metaphysischem Dunst umhüllt, indem etwa eine gespenstische Geräuschkulisse für Atmosphäre sorgt, hätte hier wahrscheinlich allein mutiges Zusammenstreichen des zweiten Teils von Haltestelle. Geister geholfen. So muss man ein wenig zu lange der hervorragenden Schauspieler-Crew zuschauen, wie sie an ihren letztlich doch recht eindimensionalen Charakteren virtuos herumnagt.

Am dankbarsten ist die Rolle der Gracia Gala, weil sie das größte Geheimnis besitzt: Fast bis zum Schluss bleibt unklar, ob sie eine Prinzessin vom Planeten Tallulah oder nur eine fantasierende Drogensüchtige ist. Sabine Orlans stattet diese Figur mit forscher Direktheit aus, lässt aber ebenso Gracias Verletzlichkeit aufscheinen. Überzeugend auch Bjarne Mädel als der Mann vom Grillimbiss. Er heftet sich an Gracias Fersen, um sie zu erobern. Die anrührendste Liebesgeschichte des Stücks.

Ganz anders: der Sado-Maso-Beziehungsclinch des Ehepaars aus der Oper. Wolfram Koch gibt den perversen Wagner-Fan als ebenso selbstgefälligen wie überdrehten Schönling. Ihn und seine Frau (Sabine Wegener) verbinden extreme Gewaltfantasien, die sie Seite an Seite wie Opernsänger im Duett eifrig ins Publikum sprechen. Einen großen Auftritt hat auch Stefan Merki als Großinquisitor. Wegen eines geplatzten Blind-Date ist dieser außer Rand und Band. Sein Monolog erzählt viel über Einsamkeit und Paarungsverhalten in den Zeiten des Internet. Neben solch kritischen Reflexen auf den Zeitgeist versucht Krausser, seinem Stück auch archaische Dimensionen zu verleihen, indem er verkappt mythische Figuren einbaut. Kurz: Der Autor hat zu viel gewollt und sich dabei verzettelt. Schade.

Dagmar Penzlin

Weitere Vorstellungen:8., 15,, 24. 10, 20 Uhr, 14.10, 19 Uhr, Schauspielhaus