Brasilianer mit Chuzpe

Obwohl Alexandre Alves do Nascimento ein sensationelles Tor gelingt und Hertha schließlich 4:2 gegen den 1. FC Köln gewinnt, verstummen die „Röber raus“-Rufe im Olympiastadion nicht

von MARKUS VÖLKER

Dieter Hoeneß reagierte. So wie er es immer tut, wenn Unheil droht. Und es drohte geballt vom Grün herauf: Hertha BSC Berlin lag nach 27 Minuten mit zwei Toren gegen den 1. FC Köln hinten. Der Manager sprang also von seinem Sitz auf der Tribüne hoch, trippelte die Treppe runter, um ganz schnell bei den Angestellten am Spielfeldrand zu sein. Er eilte durch Katakomben und just zwischen grauen Betonwänden hörte er diesen Schrei, der ein Stück Ewigkeit begleiten sollte. Hoeneß entging somit durch sein überstürztes Krisenmanagement das Live-Erlebnis.

Es war ein Schrei aus zehntausenden Hälsen, ein wenig verhalten, gedämpft, weil die Zuschauer nicht glauben konnten, was passiert war. Selbst Trainer Jürgen Röber blieb hypnotisiert am Stuhl kleben. Dieser Brasilianer hatte tatsächlich geschossen. Aus 52 Metern. Vom Anstoß im Mittelkreis weg. Und der Ball hob sich über den Kölner Torwart Markus Pröll in den rechten Winkel. Kölns Trainer, Ewald Lienen, wusste danach nur zu sagen: „Das gehört offensichtlich auch zum Profifußball dazu.“

„Supertor“, meinte Alex Alves. Der 25-Jährige verschwieg, dass zu solch einer Tat eine ordentliche Portion Chuzpe gehört, des Weiteren ein wenig Größenwahn, Schussglück und natürlich auch: Können. In Jugendmannschaften voll pubertierender Kicker gibt es immer so einen, der die verrückten Schüsse wagt und wegen andauernder Erfolglosigkeit bald in den Ruf eines unverbesserlichen Dickkopfs gerät. Das ist Alves auch. Irgendwie. Nur kann er, der in voller Pracht Alexandre Alves do Nascimento heißt, sich ein paar kleine Ausrutscher leisten. Hieß der große Pele denn nicht auch Nascimento, Edson Arantes do Nascimento? Und wer hat hier zu Lande schon so einen tollen Schuss gewagt? Klaus Augenthaler vielleicht mal, als er Uli Stein im Tor der Frankfurter Eintracht überlupfte. Aber sonst?

„Man holt Brasilianer, weil sie auf dem Platz überraschende Dinge machen“, sagte Hoeneß. „Natürlich auch außerhalb des Spielfeldes.“ Man könne ja nicht erwarten, dass sie „auf dem Platz Brasilianer“ und „daneben Deutscher“ seien. Was heißt: Stets den zentnerschweren Stolz des Südamerikaners abfedern, langsam an der Einsicht arbeiten.

Daran musste auch nach der Auswechslung von Alves gewerkelt werden. Der stürmte bereits in die Kabine, nur das beherzte Eingreifen von Hoeneß und Pressesprecher Hans-Georg Felder hielt ihn auf der Bank. Was als „Bühne zum Abgang“ (Röber) für den Stürmer gedacht war, wurde zum Präludium der Trainer-Schelte. Die Fans forderten nach der Szene die Absetzung des Übungsleiters, beim Stand von 4:2, für das unterdessen Michael Preetz und zweimal Dariusz Wosz gesorgt hatten.

„Was soll man dazu sagen“, wollte Röber auf den Unmut der Anhänger nicht näher eingehen. Unter der Woche hatte er das Debakel in Unterhaching offensiv verarbeitet – Röber ließ verbreiten, dass er so enttäuscht wie noch nie bei Hertha sei. Und: „Hier fühle ich mich oft wie ein Dompteur – jeder ist gleich persönlich beleidigt.“ Dabei ist Röber keineswegs ausgeschlossen aus dem Reigen der Eingeschnappten. Seit Wochen schwelt ein Konflikt um seine Vertragsverlängerung. Hoeneß schlägt einen Einjahreskontrakt zum Saisonende vor; Röber findet das angesichts seiner Verdienste um den Verein zu kurz gegriffen.

Die „Röber raus“-Rufe will Hoeneß nun eingehend untersuchen, denn sie kleckern unschöne Flecken auf seinen Entwurf eines hoch professionellen Hauptstadtvereins. In der kommenden Woche will er drüber nachdenken, „wie man so einem Phänomen begegnet“. Doch wie sollen die Fans „die Kirche im Dorf“ (Hoeneß) lassen, wenn die Hertha längst zur Kathedrale in der Metropole geworden ist? Und was anderes sollen sie vom Gottesdienst erwarten, als eine fetzige Liturgie? Dröge Sonntagsreden sind sie allemal leid.

Alex Alves bevorzugt, soweit ein Dolmetscher in der Nähe ist oder sein radegebrochenes Deutsch verständlich ist, die klare Aussage. „Ich will immer spielen, immer bis zum Ende und am liebsten jeden Tag“, sagte er. Röber weiß immerhin, was er an Alves hat: „Manche meiner Leute können ja gar nicht so weit schießen“, ließ er wissen. 52 Meter. In den Winkel. Alves kann’s.