: Vier Stunden täglich im Pappkarton
Der mexikanische Performancekünstler Santiago Sierra sperrt in den Kunst-Werken Asylbewerber in Kisten. Zu sehen sind sechs verschlossene Kartons. Das Wissen um den Inhalt stört. Das Galeriepublikum guckt zu und trinkt Rotwein
Sechs Asylbewerber sitzen täglich vier Stunden in Pappkartons. Als der Künstler Santiago Sierra in einem Flüchtlingsheim in Berlin-Mitte Freiwillige für dieses Performanceprojekt suchte, sagte einer der Asylbewerber: „Was ist dabei? Das ist doch das, was wir jeden Tag hier tun.“ Asylbewerberheime sind also auch nicht besser als Kartons. Menschen werden darin weggepackt. Arbeit und Reisen sind verboten. Es ist langweilig und einsam. Viele verstecken sich in ihrem Heim, weil sie sich draußen vor Skinheads fürchten.
Am Samstag wurde die Ausstellung Santiago Sierras in den Kunst-Werken eröffnet. Sie heißt „Sechs Menschen, die für das Sitzen in Pappkartons nicht bezahlt werden dürfen“. Die Asylbewerber, die Sierra für sein Projekt gefunden hat, lehnen eine Bezahlung ab, weil Geld verdienen laut deutschem Asylbewerbergesetz ein Ausweisungsgrund sein kann. Zu sehen sind sechs hohe verschlossene Kartons. Still und schäbig stehen sie in der weiten Kunst-Werke-Halle. Braunes Klebeband hält die Pappe zusammen. Das Wissen um den Inhalt stört. Viele der Vernissagebesucher trinken trotzdem Rotwein. Es ist ein sonniger Samstagnachmittag. Draußen im Hof dampft ein Würstchengrill.
Santiago Sierra lebt in Mexiko. Er macht ständig gesellschaftkritische Aktionen, die in ihrer Knalligkeit an Performances der 60er- und 70er-Jahre erinnern. In Los Angeles ließ er zehn illegale Arbeiter tonnenschwere Betonblöcke sinnlos durch einen Galerieraum schleppen. In Havanna bot Sierra schlaksigen Arbeitslosen 30 Dollar, wenn sie dazu bereit waren, sich eine schwarze Linie auf den Rücken tätowieren zu lassen. Einmal hat er eine Galerie mit Benzin ausgepinselt und angezündet. Santiago Sierra ist wohl das, was man einen „unbequemen“ Künstler nennt.
Dem Vernissagenpublikum in Mitte gefällt das. Eine ältere Frau mit grellrotem Lippenstift sagt: „Die Installation sieht doch total toll aus!“ Dann geht man wieder raus zu den Würstchen.
Hier versucht der Künstler Jonathan Meese auf sich aufmerksam zu machen. Er hat in die Fenster der Kunst-Werke Pin-up-Fotos aufgehängt. Zu den großen Brüsten läuft laute Rockmusik. Der Künstler selbst tobt mit einer Schaufensterpuppe durch die Leute und schreit Unverständliches. Das Publikum lächelt. Eine Freundin sagt: „Das ist hier wie auf dem Oktoberfest.“ Zwei schöne Frauen in Schlangenlederhosen unterhalten sich, wie die Party gestern war. Bald wünscht man sich, dass Santiago Sierra statt der Sache mit den Pappkartons hier ein anderes seiner Projekte durchgeführt hätte. In Mexiko-Stadt verfrachtete er einmal ein komplettes Vernissagenpublikum samt Proseccogläsern in einen Autobus. Nach 45 Minuten Fahrt setzte er die Gesellschaft in einem Slum aus. KIRSTEN KÜPPERS
„Sechs Menschen, die für das Sitzen in Pappkartons nicht bezahlt werden dürfen“, bis 12. November, täglich außer montags von 12 bis 18 Uhr, Kunst-Werke Berlin e.V., Auguststraße 69, 10117 Berlin
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