Vor der Globalisierung

Generationswechsel und Orientierungslosigkeit: Auf dem 43. Deutschen Historikertag präsentierte sich ein Fach in der Krise. Doch der Nachwuchs redet lieber über Stellenpläne als über neue Inhalte

von RALPH BOLLMANN

Eigentlich war der Vortrag eine einzige Provokation. Doch die deutschen Geschichtsforscher applaudierten begeistert. Ein „globales Bewusstsein“ hatte die amerikanische Historikerin Nathalie Zemon Davis gerade von ihnen eingefordert und die „dialektische Vision einer verbundenen Vergangenheit“ ausgebreitet. Wer Weltgeschichte schreiben wolle, der müsse vor allem erforschen, wie Gesellschaften miteinander kommunizieren – durch Handel oder Krieg, durch Einwanderung oder Eroberung. Im größten Hörsaal der Aachener Hochschule lauschten Hunderte von Wissenschaftlern gebannt den Worten der 72-Jährigen aus Princeton, als trüge sie die Offenbarung im Gepäck: „Eine Welt – eine Geschichte?“

Für das Rahmenthema des diesjährigen, des 43. Deutschen Historikertages hätte sich gewiss keine bessere Festrednerin finden lassen. Doch gerade der hehre Anspruch, den das Aachener Treffen in der vergangenen Woche erhob, machte den tristen Alltag bewusst: Wenn an Deutschlands Universitäten von „Geschichte“ die Rede ist, dann ist damit in aller Regel „deutsche Geschichte“ gemeint. Wer als Historiker hierzulande Karriere machen will, der sollte sein Augenmerk tunlichst auf Vormärz oder Weimar, auf Bismarck oder Hitler richten. Ein Besuch in Archiven jenseits der deutschen Grenzen weckt schnell den Verdacht touristischer Motive.

Doch nicht nur an dieser Diskrepanz zwischen universellem Anspruch und provinzieller Wirklichkeit liegt es, dass der Kongress der deutschen Historiker in diesem Jahr einen schalen Nachgeschmack hinterlässt. Die bekannten Koryphäen des Fachs, allesamt bereits im Pensionsalter oder kurz davor, traten die Reise in die Stadt Karls des Großen gar nicht erst an – oder sie zeigten sich auf der Tagung nur am Rande.

Diesmal beherrschten die „Jungen“ das Feld, die Alterskohorte der 50-jährigen Ordinarien oder 40-jährigen Privatdozenten. Der Vergleich mit dem vorausgegangenen Historikertag 1998 in Frankfurt am Main zeigt: Die deutsche Geschichtswissenschaft steht mitten in einem Generationswechsel.

Noch vermag der Nachwuchs die Lücke nicht zu füllen, die der langsame Rückzug der prominenten Großhistoriker reißt. Zwar beschwor Wolfram Siemann aus München wortreich die „Attraktivität des Fachs“, und in der Tat wurden noch nie so viele Themen so akribisch erforscht wie heute. Doch von den großen Debatten, die das Fach früher prägten, ist nichts mehr geblieben. Gewiss: Oft genug hatten die Altvorderen eitle Hahnenkämpfe um Theorien und Methoden ausgefochten, hatten sich in fruchtlosen Stellungskriegen zwischen Konservativen und Progressiven aufgerieben. Doch Wissenschaft lebt von der kalkulierten Provokation, ohne die es keinen Fortschritt gibt.

Dass sich die Jüngeren in ihrer Mehrzahl so brav geben, liegt nicht zuletzt an ihren prekären Zukunftsaussichten, die allzu lautes Aufbegehren wenig ratsam erscheinen lassen. Rund 220 Historiker seien derzeit für den Beruf des Hochschullehrers qualifiziert, aber noch ohne feste Stelle, rechnete die Gießener Habilitandin Annette Nagel vor. Gemeinsam mit dem Marburger Privatdozenten Ulrich Sieg hat sie deshalb eine Initiative von Nachwuchshistorikern ins Leben gerufen, die vor einem „Privatdozentenelend“ wie zu Max Webers Zeiten warnen. Der Protest richtet sich jedoch nicht an die Adresse der etablierten Kollegen, sondern – so harmlos wie aussichtslos – an die Finanzminister der Bundesländer. Man fordere schlicht „neue Stellen“, ließ Nagel wissen.

Zum neuen Kuschelklima beigetragen hat freilich auch der behutsame Modernisierungskurs des Frankfurter Mittelalter-Experten Johannes Fried, der den Historikerverband in den vergangenen vier Jahren führte. Sein Vorgänger, der konservative Bürgertumsforscher Lothar Gall, hatte aus den offiziellen Tagungsprogrammen noch alles verbannt, was nach Nestbeschmutzung klang – Eklats waren folglich leicht zu provozieren. Fried hingegen suchte die Kritiker einzubinden, indem er zu jedem strittigen Thema gleich eine Podiumsdiskussion anberaumte.

Kontroversen, die früher jahrelang schwelten, waren nun plötzlich an einem Nachmittag erledigt. Die braune Vergangenheit führender bundesdeutscher Historiker, vor zwei Jahren in Frankfurt noch erregt diskutiert, wurde diesmal nur noch nüchtern abgehandelt. Hans-Ulrich Wehler, auf früheren Kongressen die intellektuell dominierende Gestalt, übte sich in matten Rückzugsgefechten. Die „progressiven“ Großhistoriker, die stets mit dem Gestus des Aufklärers auftraten, hatten die eigenen Disziplin von dieser strengen Betrachtung ausgespart – darunter leidet jetzt ihre Autorität. So ist zwar hinlänglich bekannt, dass Wehler die „modische Individualisierung“ in der Geschichtsschreibung für „intellektuell nicht sonderlich inspirierend“ hält. Benutzt er dieses Argument jedoch, um seinen eigenen Lehrer Theodor Schieder aus der Schusslinie zu nehmen, dann verliert es einiges von seiner Überzeugungskraft.

Das Verhältnis der Historiker zur breiteren Öffentlichkeit ist hingegen schon länger gestört. Spätestens die Goldhagen-Debatte hatte gezeigt: Dem Trend zu einer nur noch moralisierenden Sicht auf den Nationalsozialismus stehen die Wissenschaftler ebenso verständnislos gegenüber wie dem Wunsch, sie sollten Handwerkszeug zur Bekämpfung des Rechtsextremismus bereitstellen. Auf dem Historikertag forderte die Magdeburger Justiz-Staatssekretärin Mathilde Diederich (SPD) von den Forschern, sie müssten „Erlebnisse der Zeitzeugen an nachfolgende Generationen greifbar weitergeben“. Der Freiburger NS-Experte Ulrich Herbert wies derlei Ansinnen energisch zurück: „Man muss nichts vom Dritten Reich verstehen, um zu wissen, dass man nicht die Wohnung von Türken anzündet.“

Viel problematischer sei, so Herbert, „was in unserer eigenen Zunft in der Grauzone nach rechts passiert“. Doch auch auf diesem Feld geschah, was früher kaum denkbar gewesen wäre: Einmütig verabschiedete der Historikerverband eine Protestresolution an die Adresse des sächsischen Kultusministers Matthias Rößler, der den Direktor des Dresdner Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung eigenmächtig abgesetzt hatte, ohne zuvor das Votum des Wissenschaftlichen Beirats eingeholt zu haben. Wirklich ausgetragen wurde der Konflikt damit nicht: Die rechtslastigen Kollegen waren in Aachen gar nicht erst erschienen. Auch Horst Möller fehlte – der Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, der sich zuletzt mit einer Laudatio auf den NS-Apologeten Ernst Nolte einen Namen gemacht hatte.

Seit dem Niedergang der einst modischen Sozialwissenschaften klopfen sich die Historiker gerne selbst auf die Schulter, beschwören die Lebendigkeit ihrer Disziplin. Doch auf dem Aachener Kongress hat sich über diese vermeintliche Buntheit ein grauer Schleier der Orientierungslosigkeit gelegt.

Helfen könnte da nur jener frische Wind von außen, den die Amerikanerin Nathalie Zemon Davis spüren ließ. Zwar haben sich die Historiker, die sich 1.200 Jahre nach der Krönung Karls des Großen in der Kaiserstadt trafen, zu Recht gegen eine anachronistische Indienstnahme des Karolingers für die heute Europarhetorik gewehrt. Den einen oder anderen Kollegen aus Belgien oder den Niederlanden aber hätten sie zu ihrer Tagung im Dreiländereck ruhig einladen können. Es wäre ein Anfang gewesen – auf dem Weg zu „einer Welt – einer Geschichte“.