Haltestellen des Glücks

Mit vier Uraufführungen startete das Hamburger Schauspielhaus in die erste Saison unter seinem umstrittenen Intendanten Tom Stromberg. Warten war ein übergreifendes Thema: Mal in küchenphilosophischer Variante, mal in kunstvoller Verwebung

von CHRISTIANE KÜHL

Und dann passiert es eben doch, dass – ja! – der Theaterbesucher für einen Augenblick ein sehr glücklicher Mensch ist. In Hamburg, wo das Staatstheater, ganz wie in Berlin vor einem halben Jahr, sich gerade neu erfinden will, mit neu interpretierter und ein wenig forcierter Zeitgenossenschaft. Zum Spielzeitstart gab es dort zwei neue Intendanten, neue Spielstätten, ausgewechselte Ensembles und sechs Premieren in acht Tagen, darunter vier Uraufführungen von Autoren und Inszenatoren (so heißt das jetzt!) unter 37. Fast jedes Mal sagte man beim Verlassen des Theaters „na ja“ oder „ja, aber“ oder „nee, wirklich“. Einmal aber war da ein Moment gackernder Glückseligkeit.

Es war Freitagnacht um kurz nach 23 Uhr im großen Saal des Deutschen Schauspielhauses. Tausend Menschen saßen dort, von denen viele bereits um 19 Uhr die Eröffnungspremiere gesehen und sich dann mutwillig an Alkoholika gelabt hatten, bevor sie zu später Stunde erneut in den roten Samtsesseln versanken. Der DJ setzte die Maschine in Gang, woraufhin eine mutwillige Schnulzstimme glasklar die Machbarkeit von Wundern und Geschichte und natürlich a girl named Maria besang: „Today I had a feeling a miracle would happen. And I was right.“ Drei Minuten war da nichts als Playback im dunklen Barocktheater. Und noch bevor die Scheinwerfer hoch gefahren wurden, bevor sich der Vorhang zur Uraufführung von Jérôme Bels „The show must go on!“ hob, bevor überhaupt ein Mensch auf der Bühne erschien, klatschte und kiekste das Publikum, als hätte es nun endlich, endlich bekommen, worauf es seit einer Woche gewartet hat. Nicht auf die Maria aus der „Westside Story“. Sondern auf einen – nennen wir ihn Inszenator –, der wissend spielt und konsequent ist, der Humor hat und Dramaturgie beherrscht.

Es wäre gelogen, zu behaupten, dass alle Besucher das Theater 90 Minuten später glücklich verlassen hätten. Jérôme Bel, ein wichtiger Erneuerer des europäischen Tanzes der letzten Jahre, pflegt eine Art semiotisch inspirierten Anti-Tanz. Der Körper interessiert ihn nicht als Authentizitätsmedium, sondern als Träger von Zeichen – wobei er ihm just jene motorischen Codes verweigert, die als Sprache des Tanzes verstanden werden. Wenn nach „Maria“ die „Hair“-Hymne erklingt, betreten 21 Ensemblemitglieder des Schauspielhauses die Bühne, stellen sich im Halbkreis auf – und tun gar nichts. Beim anschließenden „Come together“ singt das Publikum bereits mit, der erste Freizeittänzer springt auf die Bühne. Etwa 15 Top-Ten-Hits aus 30 Jahren Popgeschichte folgen, begleitet von einem Minimum an Bewegung, und das auf absurdeste Weise illustrativ. Als bei Paul Simons „Sound of Silence“ auch noch die Musik ausgeschaltet wird, brüllt natürlich jemand „Wir ham’s kapiert! Mach hinne!“, und die gewiefteren unter den Kritikern erzählen, dass es all das schon in den Siebzigern gab. Nur: Das würde Jérôme Bel gar nicht leugnen. Bel spielt nicht provokante Verweigerung. Gerade weil das aufgeklärte Publikum so gern betont, alles schon gesehen haben, stellt „The show must go on!“ – mit Queen, ganz ohne sich zu schämen – die wichtigere Frage: „Does anybody know what we are looking for?“

Das deutsche Theater tut sich nicht leicht mit dem Eintritt ins 21. Jahrhundert. Auf der pragmatischen Ebene ist die Frage, wonach es sucht, natürlich leicht zu beantworten: nach Publikum, besonders nach dem jungen, das es fürchtet bald ganz an den Film und die elektronischen Medien zu verlieren. Am Hamburger Schauspielhaus stellt sich dieses Problem besonders drängend, weil es als das größte deutsche Theater jeden Abend rund 1.400 Plätze zu füllen hat. Als vor zwei Jahren der damalige – und bis zuletzt sehr erfolgreiche – Intendant Frank Baumbauer entschied, seinen Vertrag nicht über das Jahr 2000 hinaus zu verlängern, verkündete die Hamburger Kultursenatorin Christina Weiss, sein reiches Erbe an den Typ „Zukunftsintendant für das nächste Jahrhundert“ zu übergeben: Tom Stromberg, Kulturmanager. Ein Begriff und eine Ahnung, der die Welt der schönen Künste selbstredend aufheulen ließ.

Festivalheini, Handyman, Generation Golfschläger – an Schimpfworten zur Beschreibung des heute 40-Jährigen wurde nicht gespart. Seine Karriere begann beim Frankfurter Theater am Turm, wo er vom Praktikanten zum künstlerischen Leiter aufstieg und das Haus vor allem durch die Präsentation internationaler Avantgardegruppen renommierte. Das exzellente Hamburger Ensemble würde er gleich nach Amtsantritt verscherbeln, fürchtete man folglich, der Mann sei nichts als ein gewiefter Einkäufer – ein Eindruck, den sein Job als Leiter des Kulturprogramms der Expo nicht gerade zu entkräften half. Strombergs Gegenargument, schließlich würde er in Hannover Peter Steins „Faust“ ermöglichen – sozusagen: mehr deutsche Tradition und ästhetisches Wagnis geht nicht –, wirkte da auch eher dämlich, handelte es sich doch bei dem Mammutprojekt lediglich um Eventkultur unter umgekehrten Vorzeichen.

Das Logo für das neue Schauspielhaus ist ein Loch, das Briefpapier und Leporellos ziert. Ob es für Durchblick oder Leere steht, ist noch nicht klar. Tatsache ist, dass Stromberg einiges im Haus entschlackt hat – im technischen Stab wurden 40 Positionen gestrichen, das Ensemble wurde von 37 auf 30 Mitglieder verkleinert. Selbst im Zuschauerraum hat der Intendant gestrichen – über das Parkett wurde eine ansteigende bestuhlte Tribüne gebaut, so dass die Sicht verbessert, die Platzzahl jedoch um 250 verringert wurde. Stattdessen wurde ein benachbartes ehemaliges Kino als Spielstätte dazugewonnen. „Öffnung zur Stadt“ und „Flexibilität“ sind Stichworte, die Stromberg – wie viele Theatermacher, aber eben auch BMW-Showroom-Betreuer – permanent im Mund führt.

Als Zeichen der Kontinuität, wurden mit Jan Bosse (31), Ingrid Lausund (35) und Ute Rauwald (35) drei Hausregisseure engagiert. Damit liegt das Schauspielhaus ganz im nationalen Trend: Künstler, deren Namen vor fünf Jahren noch keiner buchstabieren konnte, sind mit einem Mal tragende Stützen der Institution. Nach der Werbung ist Jungsein zeitgleich mit dem Literaturbetrieb auch im Theater zum Gütesiegel avanciert. Ob das auf Dauer reicht, alle Möglichkeiten des Mediums auszuleuchten und ein erhofft breites Publikum zu überzeugen, wird zunehmend zweifelhafter. Does anybody know what we are looking for?

Ein Anfang hat immer etwas Programmatisches, ob Manifeste veröffentlicht werden oder nicht. Dass das Schauspielhaus am Eröffnungsabend gleich vier Premieren parallel zeigte, heißt vor allen Dingen schon mal: Wir können arbeiten. Die drei Uraufführungen unterstreichen Strombergs Willen zum Neubeginn und sein eher projektorientiertes als interpretatives Interesse am Theater. Neben Jérôme Bels „The show must go on!“ hat Ingrid Lausund mit sieben Schauspielern und zwei Musikern „Die Unsterblichen“ erarbeitet, Helmut Krausser als Auftragsarbeit ein Stück namens „Haltestelle. Geister“ verfasst, das Jan Bosse auf die große Bühne brachte, und Ute Rauwald inszenierte im Malersaal „Gier“, das letzte Stück von Sarah Canes.

Warten entpuppte sich als ein übergreifendes Thema dieser Stücke: auf den Bus, auf die Liebe, auf das Ende oder den großen Auftritt, so genau wusste das selten einer. Godot war jedenfalls nicht dabei. „Haltestelle. Geister“ kreist um das Warten in der küchenphilosophischen Variante. Also: Dein Leben lang sitzt du an der Bushaltestelle und wartest vergeblich auf irgendeinen Bus – und wenn du dann tot bist, merkst du, dass die Haltestelle der Bus ist. Wie „Der Weg ist das Ziel“, nur in der statischen Variante. Das ist einerseits schrecklich, andererseits aber auch nicht so schlimm, denn wie Stück und Inszenierung deutlich machen, ist tot sein gar nicht anders als lebendig sein. Im Grunde sogar einfacher: Man hängt weiter an derselben Haltestelle ab, aber diesmal weiß man wenigstens, mit wem man es sonst so zu tun hat. Im Himmel tragen nämlich alle weiße T-Shirts, auf die die jeweilige Subjekthaftigkeit in einem Wort gedruckt ist. „Dealer“, „alter Mann“, „Tusse 2“. Zusammen langweilt und kalauert man sich durch den Rest der Zeit.

Jan Bosse hat sich redlich Mühe gegeben, aus den namenlosen Figuren Typen zu machen und bisweilen ihre Dämlichkeit durch karikaturhafte Überzeichnung aufzufangen, aber es hilft nichts: „Haltestelle. Geister“ bleibt ein schwaches Stück. Anfangs amüsieren einige Dialoge noch, etwa wenn Gala Tallulah (Sabine Orléans) sich als außerirdisches Wesen behauptet oder Stefan Merki den Internetflirter alias „Großinquisitor“ gibt, aber über zwei Stunden laufen die zahllosen kurzen Begegnungen der 15 Personen schlicht leer. Gekürzt im kleinen Malersaal hätte die Inszenierung vielleicht eine Chance – das Große Haus macht allein da Sinn, wo ein Auto senkrecht aus dem Bühnenhimmel auf die Spielfläche kracht.

Eine schöne, in Momenten richtig anrührende Inszenierung gelingt hingegen Ingrid Lausund im Kinosaal. „Die Unsterblichen“ zeigt sieben Figuren, die über verzweifelte Originalität ihre Existenzberechtigung behaupten wollen – eine Anstrengung, die fehlschlagen muss. Verloren sitzen sie nebeneinander auf vielen Stühlen oder stehen hampelnd, um Witze oder Anekdoten oder irgendetwas sie unverwechselbar Machendes von sich zu geben. Die Missgunst der anderen verhindert das. Gemeinsam können sie nur ab und an ein Lied singen. Während der Zuschauer die x-te Marthaler-Kopie-Variante fürchtet, gewinnt die Produktion unbeirrt an Eigenheit und Dichte.

Was sie auszeichnet, ist eine bezaubernde Kunst der Verwebung: Die Figuren erfinden sich ihre Geschichten, und nach und nach klinken sich die anderen in diese Fiktionen ein. Das wird vom jeweiligen Erzähler nicht gern gehört, doch akzeptiert – Geschichten werden umorganisiert, ihr Fortgang unter neuen Prämissen gestaltet. Am Ende wirkt die Gruppe, die anfangs den Charme einer Aschermittwochsleichenversammlung versprühte, wie eine italienische fahrende Schauspielergruppe aus den Zwanzigerjahren – unglücklicherweise seit Jahren im selben Provinznest festgehalten. Immerhin wissen sowohl die Figuren als auch die Regisseurin, wonach sie suchen: nach etwas Ureigenem. In diesem Sinne kann die Show weitergehen.