Japan probt nuklearen GAU

Ein Jahr nach dem schwersten Atomunfall in der Geschichte des Landes ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Atomenergie immer noch erschüttert

TOKIO taz ■ Sirenen heulten, Befehle aus Megafonen plärrten und Techniker in weißen biochemischen Anzügen und Schutzmasken rannten. Fünf Busse hielten vor einem Quartierzentrum, 100 Menschen wurden in eine große Halle gejagt und eilig mit Geigerzählern auf radioaktive Strahlung untersucht. Die „Atomstadt“ Tokaimura probte genau ein Jahr nach dem schwersten Nuklearunfall in der japanischen Geschichte, der zwei Menschen das Leben gekostet und 439 Bewohner der Kleinstadt leicht verstrahlt hatte, noch einmal den Ernstfall.

Mit dieser landesweit ausgestrahlten Katastrophenübung am Samstag versuchte die japanische Regierung die Bevölkerung zu überzeugen, dass sie ein Jahr nach dem Atomunfall von Tokaimura auf den Ernstfall vorbereitet ist. Nicht ganz derselben Meinung waren rund hundert AKW-Gegner, die eine Anti-AKW-Demo vor dem Wissenschafts- und Technologie-Ministerium in Tokio organisiert hatten. Sie forderten schärfere Sicherheitsbestimmungen und die Stilllegung von alten Atomanlagen, die schon bald dreißig Jahre in Betrieb sind.

Michiaki Furukawa, Professor der Yokkaichi Universität und Mitglied der Anti-AKW-Vereinigung Citizens Nuclear Information Centre in Tokio, glaubt, dass sich in diesem Jahr etwas verändert hat. „Die öffentliche Meinung gegenüber der Atomkraft hat sich geändert. Die Menschen sind kritischer geworden.“

Furkawa weiß aber auch, dass die Japaner aus europäischer Sicht grundsätzlich Kernkraft-Befürworter bleiben. Eine Diskussion über einen Ausstieg gibt es nicht, weil die Bevölkerung die Abhängigkeit von AKW-Strom als zu hoch einschätzt. Dabei bezieht Japan derzeit etwa ein Drittel des Strombedarfes aus den 51 Reaktoren im Land. „Das ist europäischer Durchschnitt“, sagt Furukawa.

Etwas geändert hat sich die Haltung unter den Technokraten in Tokios Ministerien. Sie wollten vor Tokaimura noch 16 bis 20 neue Atommeiler bis im Jahr 2010 hochziehen. In einem neuen Plan sollen es „nur“ noch 13 sein. Auf lokaler Ebene ist der Protest gewachsen, und die Regierung hat kürzlich AKW-Gegner an einen runden Tisch geladen, um sie vor der Formulierung der Nuklearpolitik für die nächsten 30 Jahre zu hören. Mindestens ein umstrittenes Projekt ist so gut wie tot. Der schnelle Brüter Monju, Schauplatz eines schweren Unfalles im Dezember 1995, wird kaum je ans Netz gehen. ANDRÉ KUNZ