Potenzial zum Klassiker

■ Eine überwältigende Kresnik-Inszenierung der Nono-Oper „Intolleranza 1960“ eröffnete die Spielzeit am Theater

Ein Buhsturm schien programmiert: Hans Kresnik inszeniert eine der gesellschaftskritischsten Kompositionen unserer Zeit, das bis heute nicht mehr eingeholte „Intolleranza 1960“ des Komponisten Luigi Nono. 1961 hatte es bei der Uraufführung in Venedig einen der größten Skandale der Operngeschichte ausgelöst, man rief damals nach der Polizei. Aber die Premiere im Theater am Goetheplatz wurde ein überwältigender Erfolg, in dem sich ein paar kleine „Buhs“ nicht durchsetzen konnten.

Das lag zuallererst einmal an der musikalischen Einstudierung. Gabriel Feltz führte das Orchester und vier seitlich verteilte Schlagzeugapparate mit einer Genauigkeit und Intensität, dass die unsterbliche Musik – dieser emphatische Ausdruck dürfte vierzig Jahre nach der Komposition und zehn Jahre nach Nonos Tod – nicht nur voll erblühen konnte, sondern auch mit einer unglaublichen Überzeugungskraft daherkam, die Nono ungebrochen in der großen melodischen Tradition seiner Heimatstadt Venedig und seines Heimatlandes Italien auswies. Die Musik zog mit enormer Kraft nach vorn, setzte unerhörte atmosphärische und dramatische Akzente, wies sich in dieser Interpretation aus als eine der großen Opern dieses Jahrhunderts.

Und das lag zum Zweiten an einer Chorleistung, die im wahrsten Sinne des Wortes ihresgleichen sucht. In acht von elf Bildern tritt der Chor mit der vielleicht schwersten Partie der gesamten Musikgeschichte auf. Gabriel Feltz hatte neben Theo Wiedebusch neunzig Proben angesetzt. Der Preis für diesen überdimensionalen Einsatz, der ja auch die organisatorische Leis-tung eines Theaters an die Grenze bringt, war eine beglückende Klangschönheit und Souveränität. Bemerkenswert, dass auch der Extrachor, dem immerhin ausschließlich LaiInnen angehören, hier mithalten konnte. Es geht in der „azione scenica“ um einen Emigranten, der das Bergwerksunglück in Belgien erlebt, auf seinem Rückweg in die Heimat faschistische Folter erleben muss und endlich angesichts der Überschwemmungen des Po sieht, dass er hier bleiben muss, dass „der Mensch dem Menschen ein Helfer wird“, wie es in den Schlussworten von Brecht heißt.

Das ist nicht gradlinig erzählt, was die Schwierigkeit für jede Inszenierung ausmacht. Im Grunde ist es ein Oratorium. Es ist erstaunlich, wie gut Hans Kresnik der Musik diesmal – im Unterschied zu Fidelio – zugehört hat, wie schlüssig er einen bildnerischen Grundansatz gebildet hat: Die Bühne – von ihm und Tim Kuhnert – liegt voller Schuhe, Symbol vielleicht für die anhaltende, durch die Verhältnisse erzwungene Wanderschaft des Menschen, Affen krabbeln von abgestorbenen Bäumen, versuchen Mensch zu werden. Der Emigrant verlässt bei Kresnik eine tortenfressende Überflussgesellschaft. Sie blasen per Seifenblasen ihre Utopien in die Luft, die der Emigrant wütend zerschlägt.

Nono selbst hat Bildprojektionen, historische zum Vietnamkrieg, Kambodscha, zu rassistischer Intoleranz und den Ausbrüchen des Neonazismus, vorgeschlagen, daneben aber natürlich Interpretationsraum gelassen. Mir war die Bilderflut Kresniks zu viel, sie lenkt zu sehr von der Musik ab. Und leider ließ sich Kresnik trotz zu bewundernder Zurückhaltung zu einigen Plattheiten hinreißen: Zum Beispiel windet sich der Gefolterte unter einem riesigen roten Schaumgummikreuz. Das ist ebenso an der geschmacklichen Grenze wie der Hand-in-Hand-Gang des Paares auf die glücklichen (Video-)Kindergesichter zu.

Die Chorformationen gelangen überzeugend, tragen sie doch durchgehend der Funktion Rechnung, dass der Chor hier wie in den Rahmenchören von Bachs Matthäuspassion eingesetzt ist, manchmal agiert und manchmal kommentiert. Eine Szenenangabe von Nono: „Absurditäten aus dem heutigen Leben“ nutzt Kresnik, um Helmut Kohls Rede einzuspielen, mit der er sich bereit erklärte, vor den Untersuchungsausschuss zu treten. Einige Monate später ist diese Rede selbst für eingefleischte CDU-Anhänger mehr als absurd.

Die Partie des Emigranten sang Wolfgang Neumann überragend, genau die Mitte treffend zwischen dem heldischen und dem lyrischen Anspruch. Ebenso tadellos die Gefährtin durch Judith Berry und die Frau durch Maria Kowollik. Akzente setzten Armin Kolarczyck als Algerier, Bartholomäus Driessen als Gefolterter und Inga Schlingensiepen als Sopransolo. Ein großer Abend, der vielleicht den Wunsch Gabriel Feltz' wahrmachen kann, dass diese Oper wie „Turandot“ und „La Traviata“ in jedes Opernrepertoire hineingehört.

Ein kleines Ereignis am Rande möchte ich nicht vorenthalten: Das war die jungenhafte Freude, mit der in der anschließenden Premierenfeier Bürgermeister Henning Scherf und Hans Kresnik mit riesigen Messern die Torte zerschnitten, auf dem der Konditor Helmut Kohl aus Marzipan abgebildet hatte. „Wer will das Auge, wer will eine Scheibe des Gehirns?“

Ute Schalz-Laurenze

Die nächsten Termine: 8., 15., 21. 10, 20 Uhr, Theater am Goetheplatz. Karten: % 365 33 33