Die Abrechnung im Biergarten

Zehnjahresbilanz der Ostdeutschen bei Bratwurst, Bier und Kartoffelsalat: An den Gartentischen war mehr los als im Vortragssaal, vielleicht weil es die Sonne noch einmal richtig gut meinte mit dem Familienfest der Opposition

Wenn politische Resümees kabarettistische Züge annehmen, ist auch das Publikum zufrieden. Befreit lacht es dann, trinkt Bier und verteilt Applaus. So ist das am Prater in Prenzlauer Berg, ob am 3. Oktober oder irgendwann anders.

Der Architekturkritiker Wolfgang Kil hatte zum „Tag der Abrechnung“, zu dem die Volksbühne, das Kulturamt Prenzlauer Berg, die Rosa-Luxemburg-Stiftung und die Zeitschrift Sklaven eingeladen hatten, einen kleinen Diavortrag über Velten bei Hennigsdorf gehalten. Neben die DDR-Siedlung Velten-Süd wurde nach der Wende ein postmoderner Wohnpark errichtet, der, so Kil, „zu allem Überfluss noch Kuschelhain heißt“. Zwar hatte die Stadtverwaltung den ursprünglichen Plan, zwischen beide Quartiere eine Mauer zu bauen, verworfen. Doch die Trennung funktioniert auch so, unsichtbar. Aus dem DDR-Wohnkomplex, wegen der nahen Konkurrenz plötzlich zur schlechten Adresse geworden, ziehen viele weg, umgekehrt veranstalten die Ost-Jugendlichen in den Vorgärten der Kuschelhainer Fahrradralleys. Je näher die Lage zu Velten-Süd, desto mehr sinken die Immobilienpreise in Kuschelhain. Einheit, das gibt es in Velten nur als Straße der Einheit.

Neu war das für die etwa 150 Besucher, die dem Vortragsmarathon über 10 Jahre „Beitrittsbilanz“ lauschten, allerdings nicht, genausowenig wie die Feststellung des ehemaligen SPD-Abgeordneten Hans Misselweitz, dass die ostdeutschen Eliten noch immer unterrepräsentiert sind. Was soll man auch Neues sagen, hinter einem solchen Bühnenbild. Hinten braun und ocker wie aus der Camel-Werbung, der Grand Canyon davor, Steine und Sand, Wüste, auf denen das Redner-Pult steht. Blühende Landschaften! Hauptsache, denken sich viele, die Wüste lebt.

Und wie sie lebt. Am quirligsten lebt sie draußen, im Pratergarten, bei Bier, Thüringer Bratwurst, Kartoffelsalat und Altweibersonne. Da lässt es sich auch verkraften, dass der Eintritt zehn Mark kostet und der angekündigte Fahnenappell des Kampfliteraten Bert Papenfuß ausfällt. Der hatte sich, zumindest bis 14 Uhr, krank gemeldet. „Wahrscheinlich ist er besoffen“, meint einer. Zumindest manches bleibt also doch, zehn Jahre danach.

Zufrieden sind auch die Kinder, von denenen die meisten die DDR einmal aus den Erzählungen ihrer Eltern kennenlernen werden. Kinderprogramm, Puppentheater, alles ist da, was bei vielen Politveranstaltungen im Westen fehlen würde. Auch so ein Unterschied.

Während sich in der kommunalen Galerie gegenüber dem Prater gerade Wladimir Kaminer zur neuen Leserunde vorbereitet, freuen sich auf der Kastanienallee einige auf den angekündigten Umzug auf den Kiez. Doch der lässt auf sich warten. „Biergartenstimmung mit Beiprogramm“, nennt einer den Tag, an dem abgerechnet werden sollte, „das ist doch auch nicht anders als am Brandenburger Tor. Man trifft sich und trinkt“. – „Stimmt“, entgegnet ein anderer, „aber wir trinken und treffen uns qualifizierter.“

Drinnen hat unterdessen der Vortrag von Detlev Pollack begonnen: Sein Titel „Der Wandel von Religiösität und Kirchlichkeit in den neuen Bundesländern“. UWE RADA