Dancer in the Dark

DAS SCHLAGLOCH
von KERSTIN DECKER

„Die Augen sehen nichts. Katharina Emmerich hatte Recht, als sie behauptete, sie sehe mit dem Herzen. Da das Herz die Sehkraft der Heiligen ist, wie sollten sie nicht viel weiter sehen können als wir? ... Das Gesichtsfeld des Herzens? Die Welt plus Gott, plus das Nichts, d. h. alles.“

E. M. Cioran

Ratlosigkeit auf dem Internationalen Walter-Benjamin-Kongress in Barcelona. Die taz ist nicht da. „Aber das muss die doch interessieren!“ Unklar bleibt, ob das Organisationskomitee gerade an Benjamins Proust-Kommentare oder an den endgültigen Sieg der Weltrevolution denkt. Oder es denkt an den Benjamin-Satz: „Gewinnen soll immer die Puppe, die man ‚historischen Materialismus‘ nennt.“ Benjamin wusste auch wie: Die HistMat-Puppe brauche nur „die Theologie in ihren Dienst“ nehmen, „die heute bekanntlich klein und hässlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen“, und schon gewinne sie auf der ganzen Linie.

Weltrevolution, historischer Materialismus und Theologie jetzt in der taz, bei noch 6.023 fehlenden Abonnenten? Unmöglich.

Und dazu all diese Benjamin-Gedanken von der Errettung des Gewesenen. Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, „das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt“, sei die Vergangenheit festzuhalten. – Spricht man so über den „historischen Materialismus“? Oder Benjamin meinte gar nicht ihn, sondern in Wirklichkeit Lars von Trier? Er spricht ja über „Dancer in the Dark“! Warum kam da bloß keiner drauf, letzte Woche in Barcelona?

Denn natürlich gibt es auch kinematografische Weltrevolutionen. Lars von Trier hat vor einigen Jahren begonnen, die katholische Dogmatik zu verfilmen. Und seitdem gewinnt immerzu die Puppe, die man „Dogma“ nennt. Welch unerhörte Provokation der Jetztzeit! Man muss mit ihr gehen, um den Preis des Untergangs? Ach wo, sagt Lars von Trier und schüttelt sie ab, mitsamt ihren technischen Produktionsbedingungen. Keine künstlichen Sets, keine Nachsynchronisation, kein Fremdlicht – man kennt die „Dogma 95“-Dogmen längst. Untergang? Nein, ein atemloser Aufgang ist das geworden. Und zum ersten Mal ahnen wir wieder, welche Illusion auch Benjamin in dem Wort „Jetztzeit“ erkannte. Als ob nicht jederzeit viele Zeiten gleichzeitig wären. Wenn man sie zum Sprechen bringt.

Die Gehalte der Theologie haben keine andere Chance, als ins Säkulare einzuwandern, hat er gesagt. Nur wie kommen sie über die Grenze?

Seit fast einer Woche läuft Lars von Triers „Dancer in the Dark“, und schon fällt es schwer, über das zu reden, was es sonst noch gibt im Kino. Vielleicht so: Es existiert. An solcher, höchst ungerechter Wirkung auf die Wahrnehmung erkennt man das Revolutionäre, das Außerordentliche. Das Außer-Ordentliche ist das, was alle Ordnungen umwirft, was die Grenzlinien verschiebt. Auch die zwischen Heiligem und Profanem.

„Dancer in the Dark“ ist die zweite Heiligengeschichte – oder müssen wir sagen: Heiligenlegende? – nach „Breaking the Waves“. „Idioten“, der Vorgänger, fiel ein wenig aus der Reihe, aber überhaupt nicht aus dem Thema. Er war eine freie Variation auf das Motiv des heiligen Narren, des Idioten also. Erst wer sich völlig fremd geworden ist, wer sich ganz vergessen hat – wer wieder Schwein geworden ist, die Sprache tief versenkt in den Trieb –, erst der sei bereit für das Wort Gottes. Insofern sah „Idioten“ manchmal nur aus wie ein Porno, unterschied sich von den echten aber dadurch, dass Letztere fast nie das Wort Gottes hören wollen. Erniedrigung oder Selbsterniedrigung, ist das nicht egal?, fragte Lars von Trier. Und nun sage noch einer, dieser Mann sei nicht gefährlich.

Denn natürlich muss man sich in Acht nehmen vor den Missionaren. Vor den Überwältigern überhaupt. Sie halten im Allgemeinen nicht viel von unserem „Ich“, der Lieblingsikone eines jeden zeitgemäßen Individuums. Sie möchten es am liebsten glatt scheuern und mit ihren eigenen Schriftzügen bedecken.

Haben wir einen Maßstab ihnen gegenüber? Ja, haben wir. Es ist das ästhetisch Stimmige.

In „Breaking the Waves“ waren jene Momente noch spürbar, die ohne ordentliches Visum über die säkulare Kunst-Grenze kamen. Religiöse Schmuggelware, ästhetisch unverzollt. Mit Schaudern erinnert man sich der Glocken, die für Emily Watson aus dem offen stehenden Himmel läuteten, nachdem die Heilige, die Hure (!), alles geopfert hatte. Vor allem sich selbst. Und der gelähmte Mann, für den sie starb, konnte er am Ende nicht wieder laufen? Das haben wir Lars von Trier nicht verziehen. Aus Delirien, kinematografischen Räuschen wie diesem muss man anders geweckt werden. Glocken und geheilte Lahme sind brutal. Denn natürlich sitzen wir bei von Trier im Kino wie die Menschen des Mittelalters in der Kirche. Unterhaltung? Unterhaltung ist absolut unmittelalterlich. Nein, nicht Unterhaltung, eine Streckbank zwischen Himmel und Hölle ist das. Und die Unterscheidung zwischen Qual und Lust (des Sehens) verschwimmt.

Heilige. Hure. Opfer. Wie die Motive bloßliegen! So provozierend in ihrer Nacktheit. Und auch jetzt, in „Dancer in the Dark“: Die Menschen werden nicht gerecht sein. Wir können die Gerechtigkeit nicht selber machen. Und wenn wirklich ein Gerechter – oder eine Gerechte – unter uns sein sollte, eine Heilige also, dann werden wir sie schon erkennen. Dann bringen wir sie aufs Schaffott. Das ist die überlebensgroße Idee des Films. – Ein Musical. Grotesker, aberwitziger, genialer geht es nicht. Und Björk ist die Heilige, die erblindet, unweigerlich, aber schon lange vorher begonnen hat, mit dem Herzen zu sehen. Und zu kämpfen. Der Film ist ein Hochseilakt. Jeder Schritt eine Gelegenheit zum Absturz. Und jeder gelingt. Auf Drahtseilen hilft es schließlich auch nichts, das Seil vor sich zu sehen. Man muss es ertasten, erfühlen, immer aufs Neue die Balance finden. Trier und Björk, das sind zwei Besessene, zwei Erzengel, die um einen Film kämpfen auf dem Hochseil. Und mehr denn je finden wir uns ausgestreckt zwischen Himmel und Hölle. Aber diesmal muss von Trier keine Glocken läuten lassen, diesmal führt er uns mitten hinein in den Himmel und wieder heraus. Denn zuletzt handelt es sich bei „Dancer in the Dark“ um die überwältigende Illustration der These, das wahre Sein sei Musik. Und dass es Adagios gäbe, nach denen man nicht mehr verwesen könne. Oder eben – Musicals.

Ist es möglich, diesen Film nicht zu verstehen? Natürlich. Die Berliner Zeitung fand, von Trier ließe seine Heldin von Anfang an „als dumme Liese“ dastehen. Und dass es eben fast unmöglich sei, mit besonders dummen Menschen mitzuleiden. Das ist ein konsequent aufklärerischer Standpunkt. Und seine spezifische Unmenschlichkeit. Für die Aufklärer ist die Welt eine Angelegenheit von Intelligenzstufen. Sie leben nur in einer Welt, in einer Zeit. Und wo Benjamin das Schicksal erkannte – den Schuldzusammenhang alles Lebendigen –, sehen sie eine richtige oder falsche Entscheidung. Denken leidet nicht.

Hinweise:Natürlich muss man sich in Acht nehmen vor den Missionaren. Vor den Überwältigern überhauptUnd wenn eine Heilige unter uns sein sollte, dann erkennen wir sie – und bringen sie aufs Schaffott