Taiwan ringt um AKW-Baustopp

Rücktritt des Regierungschefs macht den Weg zum Atomausstieg frei. Neuer Premier auf Anti-AKW-Kurs

BERLIN taz ■ Einen Tag nach dem Rücktritt des taiwanischen Ministerpräsidenten Tang Fei aus angeblich gesundheitlichen Gründen ist gestern sein bisheriger Stellvertreter Chang Chun-hsiung zum neuen Premier ernannt worden. Der 62-jährige Chang gehört zur Demokratischen Fortschrittspartei von Präsident Chen Shui-bian und gilt wie dieser als Atomkraftgegner.

Hintergrund des Rücktritts von Tang, der zu der im Mai nach 55 Jahren von der Macht abgelösten Kuomintang-Partei gehört, ist der Streit um den vierten Doppelreaktor des Landes. Als früherer Verteidigungsminister war der 68-jährige Tang von Präsident Chen zum Premier ernannt worden, weil Tangs Partei im Parlament über die Mehrheit verfügt. Doch in seiner viereinhalbmonatigen Amtszeit geriet der Atomkraftbefürworter Tang zunehmend zwischen die politischen Fronten. Für diesen Monat war eine Entscheidung über die Zukunft des umstrittenen Atomkraftwerks angekündigt worden.

Mit Tangs Rücktritt haben sich jetzt die Chancen erhöht, dass der im Fischerort Kungliao nordöstlich der Hauptstadt Taipeh im Bau befindliche vierte Doppelreaktor nicht fertig gestellt wird. Das auf 5,4 Milliarden US-Dollar veranschlagte 2.700 Megawatt-Kraftwerk ist seit März 1999 im Bau und bisher zu einem Drittel fertig gestellt. Am Samstag hatte sich Wirtschaftsminister Lin Hsin-yi für einen Baustopp ausgesprochen und damit die Debatte im Kabinett zugespitzt. Er schlug vor, den Reaktor vor allem durch Gaskraftwerke zu ersetzen. Die Kosten des Baustopps veranschlagte er auf 2,9 Milliarden US-Dollar. Darin sind Kompensationszahlungen für die Reaktorbauer General Electric, Mitsubishi und Hitachi enthalten.

Die drei anderen Doppelreaktoren, die ein Viertel des taiwanischen Strombedarfs decken, will Lin zwischen 2019 und 2025 vom Netz nehmen lassen. Hauptgrund für den anvisierten Atomausstieg sind Sicherheitsbedenken. Taiwan ist extrem erdbebengefährdet und hat schon jetzt große Probleme, geeignete und von der Bevölkerung akzeptierte Lager für seinen Atommüll zu finden. Ein geplanter Export des Atommülls nach Nordkorea scheiterte bisher ebenso wie eine Entsorgung in der Volksrepublik China, wo Peking den Atommüll mit der Wiedervereinigungsfrage verbindet.

Tang hatte vor seinem Rücktritt die Fertigstellung des vierten AKWs als „geringeres Übel“ bezeichnet. Er argumentierte, es sei viel sicherer als die drei alten, die bereits 1969, 1974 und 1978 gebaut wurden. Das rohstoffarme Taiwan deckt seinen Strombedarf bisher zum Großteil aus Kohlekraftwerken. Atombefürworter befürchten ohne Kernenergie wirtschaftliche Verluste für das aufstrebende High-Tech-Land. Atomgegner machen hingegen den bisherigen Strommonopolisten Taipower für die schon jetzt unzuverlässige Elektrizitätsversorgung verantwortlich und wollen den Atomausstieg mit einer Liberalisierung und Dezentralisierung des Strommarktes verbinden.

Der vierte Doppelreaktor erregt die Gemüter in Taiwan seit 20 Jahren. 1982 wurde mit ersten Bauvorbereitungen begonnen, die 1984 ausgesetzt wurden. Nach der Katastrophe von Tschernobyl und der Demokratisierung des Landes nahm der Widerstand sprunghaft zu. Erst 1994 wurde das Projekt ausgeschrieben, erst 1996 das Budget verabschiedet. Jetzt ist die Frage, wie die Minderheitsregierung im Parlament einen Baustopp duchsetzen will. SVEN HANSEN