Serben stürmen Schacht

Nachdem Polizisten ein bestreiktes Bergwerk besetzt haben, durchbrechen tausende Demonstranten die Blockade. UN-Beauftragter Dienstbier: Milošević nicht verfolgen

BELGRAD rtr/afp/taz ■ Rund 10.000 Demonstranten haben gestern Nachmittag das Bergwerk von Kolubara gestürmt. Zuvor waren Polizisten und Soldaten gewaltsam in die seit sechs Tagen bestreikte Kohlemine eingedrungen und hatten sie besetzt. Angaben der Streikführung zufolge seien dabei einige Bergleute verhaftet worden. Zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten kam es zunächst nicht.

Nach Bekanntwerden der Polizeibesetzung des Bergwerks hatte die Opposition in Belgrad ihre Anhänger aufgefordert, sofort zu der 50 Kilometer entfernten Mine zu fahren. Auch Oppositionsführer Vojislav Koštunica wurde dort erwartet. Die Polizei errichtete vier Kilometer vor der Mine mehrere Straßensperren, um aus Belgrad kommende Demonstranten am Zugang zur Mine zu hindern. Auch Journalisten wurde der Zugang verwehrt.

Das staatliche Elektrizitätswerk hatte am Dienstag mit Hinweis auf ausbleibende Kohlelieferungen die Stromversorgung rationiert. Die Bergleute hatten dagegen erklärt, die Kraftwerke hätten noch genug Kohle. Die Einschränkungen seien politisch motiviert.

Unterdessen weiteten sich die Proteste gegen eine zweite Runde der Präsidentschaftswahl und für eine Anerkennung des Wahlsieges von Vojislav Koštunica gestern landesweit aus. In Belgrad versammelten sich erneut zehntausende Menschen zu Protesten. Mitarbeiter der Post- und Telefongesellschaft stellten von 12 bis 14 Uhr die Arbeit ein. Die Gewerkschaft der staatlichen Energiebehörde EPS drohte mit einem Streik ihrer 62.000 Beschäftigten. Belgrader Studenten planten die Übernahme des staatlich kontrollierten Universitätsfernsehens.

Auch in den Provinzstädten demonstrierten tausende. Auf Straßen nahe dem zentralserbischen Čačak und bei Pozarevac, dem Geburtsort von Milošević, wurden Verkehrsblockaden errichtet. In Čačak selbst kam das öffentliche Leben nahezu völlig zum Erliegen. Hier streikten neben privaten auch staatliche Betriebe sowie die Verwaltung, Schulen und das Gesundheitswesen. In Anspielung auf die Wahlfälschung hieß es auf Aufklebern: „Geschlossen wegen Diebstahls!“

Der Oppositionspolitiker Milan Protić kündigte dem Rundfunksender B 2-92 zufolge für den heutigen Donnerstag eine Großdemonstration in Belgrad an. Bis spätestens 15 Uhr müsse Slobodan Milošević den Wahlsieg des Oppositionsführers anerkennen. „Danach werden wir die Macht auf kommunaler Ebene übernehmen, überall dort, wo wir gewonnen haben.“ In diesen Kommunen werde Koštunica dann zum Präsidenten des ganzen Landes ausgerufen.

Unterdessen bekräftigte Koštunica, im Falle der Anerkennung seines Wahlsieges Slobodan Milošević nicht an das Internationale Kriegsverbrechertribunal in Den Haag auszuliefern. Auch der UN-Menschenrechtsbeauftragte für das frühere Jugoslawien, Jiři Dienstbier, setzte sich dafür ein, dass Milošević künftig nicht wegen Kriegsverbrechen verfolgt wird. In einem BBC-Interview sagte der frühere tschechoslowakische Außenminister: „Dies mag nicht die moralischste aller Lösungen sein, aber es ist besser, als die Interessen des gesamten serbischen Volkes zu ignorieren.“

Diese Ansicht vertrat gestern auch der russische Abgeordnete und Chef des Ausschusses für Außenpolitik der Duma, Dmitri Rogosin. Russland sichere Milošević freies Geleit zu und werde ihn nicht nach Den Haag ausliefern. Russlands Außenminister Igor Iwanow sagte, bislang hätten weder Milošević noch Koštunica auf einen russischen Vermittlungsvorschlag geantwortet. Das Angebot stehe noch, und es werde weiter beraten. bo

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