Die Geschichten von Heldinnen reichen nicht mehr

■ Die Musikwissenschaft ist nach wie vor eine Männerdomäne. In Oldenburg debattierten Musikforscherinnen über Gegenstrategien. Unter ihnen boten auch sehr junge Wissenschaftlerinnen Einblicke in ihre Arbeit

Als im vergangenen Sommer die erste Sinfonie von Louise Farrenc in Oldenburg uraufgeführt wurde, war kaum zu fassen, dass diese mitreißende Musik erst in diesen Tagen wiederentdeckt wird. Unter der Federführung von Freia Hofmann, Professorin für Musikwissenschaft in Oldenburg, ist die Gesamtausgabe der Werke der französischen Komponistin und Pianistin, die von 1804 bis 1875 lebte, inzwischen in Wilhelmshaven erschienen. Ihre Wieder-Entdeckung ist ein Ergebnis der aktuellen Frauenforschung, wäre ohne diese nicht vorhanden. In der taz war nichtsdestotrotz noch vor kurzem zu lesen, dass in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit das „Frauenticket (...) zunehmend zur peinlichen Nummer gerät“. Und wer ernst genommen werden wolle, der könne seine Arbeit „nicht mit Geschlechterfragen belasten“.

Beobachtet man die gesellschaftliche Wirklichkeit, so scheint dieser Eindruck leider zu stimmen. Aber peinlich ist nicht das, sondern die anhaltende Weigerung, die Geschlechterforschung in die Disziplinen mit hineinzunehmen, so wie es in den US-amerikanischen „Genderstudies“ längst selbstverständlich ist. Selbstverständlich ist hierzulande noch etwas anderes: „Männer können Musik besser als Frauen. 6.000 Jahre Geschichte liefern dafür eine Kette von Beweisen ohne Ende“ und „Es traut sich ja heute niemand mehr zu sagen, dass Frauen auf bestimmten Gebieten nicht in der Lage sind, Großes zu leisten. Es hat in der Geschichte keine Frau gegeben, die eine Oper komponiert hat. Frauen können nicht bildhauern und keine Dramen schreiben“. Diese Ansichten stammen nicht etwa aus dem Mittelalter, sondern aus unserer Zeit, geäußert von den Publizisten Rudolf Walter Leonhardt und Marcel Reich-Ranicki.

Die in diesem Sinne ebenfalls zutiefst konservative deutsche „Gesellschaft für Musikforschung“ wird seit Jahren unterlaufen, in dem eine aktive Gruppe von Musikforscherinnen mit einer eigenen Sektion „Frauen- und Geschlechterforschung“ Kongresse einklagt und organisiert. Nun hat am vergangenen Wochenende in Oldenburg bereits der vierte Kongress der Sektion stattgefunden. Die darin organsierten Musikforscherinnen arbeiten bewusst innerhalb der Gesellschaft für Musikforschung, um deutlich zu machen, dass es sich um einen wissenschaftlichen Ansatz und nicht um die privaten Interessen und Probleme von Frauen in der Musik handelt.

Seit der 1980 erschienenen, bahnbrechenden Studie „Frau, Musik und Männerherrschaft“ von Eva Rieger (die mit Freia Hofmann zusammen den gut besuchten Oldenburger Kongress organisiert hatte) arbeiteten die Forscherinnen erst einmal an verschollenen Musikerinnen-Biographien und gruben viel wertvolle Musik aus. Der zweite Ansatzpunkt waren die eher soziologischen Arbeiten über die Gründe der Nichtexistenz von Komponistinnen. Ausgehend von den Erziehungsidealen von Jean-Jacques Rousseau, der die Frau als Wesen definierte, die reine „Natur“ sei, konnte die Frauenforschung erfolgreich den Prozess nachzeichnen, der die Frauen schließlich im 19. Jahrhundert in die Häuser verbannte und so von den Musikerkreisen fernhielt.

Inzwischen ist längst Konsens, dass die Erzählung von Heldinnen- und Opfergeschichten nicht ausreichen, um den wissenschaftlichen Ansatz der Frauenforschung zu begründen. Unter dem Titel „Geschlechterpolarisierungen in der Musikgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts“ boten in Oldenburg über zwanzig zum Teil sehr junge Wissenschaftlerinnen Einblicke in ihre Arbeit, leider mit den einschlägig bekannten Vermittlungsproblemen. Nur einige Themen des Kongresses: „Geschlechterprofile in Goethes Singspielen“, „Soziale Stellung und Wahrnehmung von Opernsängerinnen in Italien“, „Frauenbild in den Klavierliedern von Johannes Brahms“, „Parallelen zwischen Musikanschauung und Geschlechterrollen 1750-1800“, „Die kompositorische Interpretation der Geschlechterrollen“ in „Arabella“ von Richard Strauss. Allein diese Aufzählung macht deutlich, welch interessante und die Geschichte und die Interpretation der Musik bereichernden Ergebnisse und Reflexionen es hier gibt.

Kongressorganisatorin Eva Rieger erläuterte die eher subtile Wirkung ihrer Arbeit auf die männliche Musikwissenschaft, die auf der öffentlichen Ebene kaum fassbar ist: „Unsere Arbeit wird zur Kenntnis genommen und nicht kommentiert. Ich denke, der Einfluss läuft eher subversiv, das heißt die Studentinnen und auch Studenten reichen Diplomarbeiten, Dissertationen und Ähnliches ein, in die unsere Ergebnisse einfließen. Denn wir veröffentlichen und wir versuchen auf diesem indirekten Wege die offizielle Musikwissenschaft zu beeinflussen. Es gibt aber Regungen, die uns hoffen lassen. Es ist im Archiv für Musikwissenschaft, einer bedeutenden Zeitschrift, ein Situationsbericht erschienen von mehreren Musikwissenschaftlern, also alle männlichen Geschlechts, die gesehen haben, dass es so nicht weitergehen kann in Deutschland, dass die Kulturwissenschaften einbezogen werden müssen, die Popularmusik. Man schaut nach Amerika, in die USA, wo die Musikwissenschaft einen sehr viel breiteren Rahmen gefunden hat. Und ich denke, dass das auch langfristig die Musikwissenschaft hier verändern wird und damit auch die Geschlechterforschung“.

Die Tagungskritik machte ein Dilemma klar: Sollten Frauen nicht eine andere Kongressgestaltung durchführen als die akademisch übliche von 25 Minuten Vortrag und fünf Minuten Diskussion? Der Moderatorinnensatz: „Das wäre jetzt interessant, aber leider haben wir keine Zeit“, war jedenfalls zu oft zu hören. Themen wie „Musikalische Präsentation von Kindsmörderinnen und die Theorie von der Natur der Frau“ schreien ja geradezu nach längeren Vortrags- und Diskussionszeiten. Der Galopp, mit dem diese Referentin durch Jahrhunderte von Frauentheorien und gleichzeitig Musikgeschichte hetzen musste, weil sie von Medea und Gretchen sprechen wollte, war weder verstehbar noch sinnvoll.

Dagegen wurde – auch nicht ganz zu Unrecht – für die Beibehaltung einer solchen Durchführung allein aus dem Grunde plädiert, weil viele Frauen einfach umfassend informiert werden wollen, was wo denn so geforscht und gedacht wird. Dringend erforderlich erscheint auch eine Methodendiskussion, so vielseitig und facettenreich sind die Themen inzwischen geworden. Eva Rieger: „Frauenforschung ist immer auch Männerforschung. Wir haben uns deswegen auch umbenannt in 'Frauen- und Geschlechterforschung'. Frauen und Männer sollen komplementär dazulernen und sich auch dann verändern können, im Leben wie in der Wissenschaft, das ist unsere große Hoffnung“.

Praktische Anschauung gab es dann in einem Konzert, das die Geigerin Beate Weis, der Pianist Klaus Heidemann und der Cellist Stefan Schrader von der Deutschen Kammerphilharmonie am Abend auf dem Künstlerinnenhof „Die Höge“ gaben. In derart präzisen und inspirierten Interpretationen bewiesen das dynamische Klaviertrio von Rebecca Clarke (1886-1979), das kraftvolle Klaviertrio von Louise Farrenc (1804-1875) und das klanglich reizvolle „...et pourtant c'est mieux qu'en hiver“ von Violeta Dinescu (geboren 1953), wie lächerlich sich die machen, die die praktische und wissenschaftliche Beschäftigung mit der Musik von Frauen als „peinlich“ bezeichnen. Ganz harmlos ist das nicht: Dahinter steht ein Zeitgeist, auf den es aufzupassen gilt. Dass frau aus den drei Tagen und dem Konzert so aufgemöbelt nach Hause gehen konnte, hängt nicht zuletzt mit der hervorragenden Tagungsorganisation zusammen. Ute Schalz-Laurenze