Soundwand ohne Dirigent

Der Klassizismus Asiens funktioniert durch Blickkontakt: Das japanische Reigakusha-Ensemble gastiert mit Toru Takemitsus „In an Autumn Garden“ im Konzertsaal der HdK

Als die japanische Musik Mitte des vergangenen Jahrhunderts über Europa herfiel, war es ein Schock. Inzwischen hat man gelernt, dass ihre rhythmischen und tonalen Feinheiten etwas anderes als irreguläre Abweichungen vom westlichen Tonsystem, etwas anderes als vermeintliche Fehler sind. Auch in der westlichen Tradition geschulte japanische Komponisten haben lange gebraucht, um im zäh fließenden Klang der Musik ihrer Heimat eine brauchbare Folie authentisch avantgardistischen Denkens zu erkennen.

Diese Entwicklung wurde in den 70er-Jahren von japanischen Ensembles erwidert. Das Nationaltheater Tokio vergab mehrere Kompositionsaufträge, unter anderem an Karlheinz Stockhausen. Am Mittwochabend gastierte das Reigakusha-Ensemble in Berlin mit einem dieser Auftragswerke:Toru Takemitsus „Shûteiga In an Autumn Garden“.

Bemerkenswert ist, dass Takemitsu nicht mit provokativer Geste über den höfischen Kontext herfällt. Weder wird das gewachsene Gefüge aus Holzblas-, Pfeifen-, gezupften Saiteninstrumenten und Schlagwerk von seriellen Zersplitterungsversuchen heimgesucht, noch zwingt der Komponist die Instrumentalisten zu konkretistischen Klangverrenkungen. Nur zweimal treibt Takemitsu die Musiker zu einem tontraubenlastigen stehenden Klang, der als bizarrer „Wall of Sound“ wohl seinesgleichen sucht. Ansonsten dominieren klare Linien den Dialog zwischen dem Haupt- und den drei Echoensembles.

Dabei trug der optische Eindruck des Reigakusha-Ensembles am Mittwochabend wesentlich zur ästhetischen Erfahrung bei. In feierlichem Kostüm und mit starrer Sitzordnung füllt man den ausladenden, um nicht zu sagen: grottenhässlichen Konzertsaal der HdK mit steifer Würde. Zugleich schaffen es die Musiker, ihre artifizielle Inszenierung auf den Vortrag selbst zu übertragen. Mühelos glücken Paralleleinsätze weit voneinander entfernter Instrumentalisten ohne den koordinierenden Eingriff eines Dirigenten – ein paar flüchtige, Einverständnis signalisierende Blicke reichen. Takemitsus Partitur scheint all das zu enthalten, was sowieso zu erklingen hätte. Eine Aura, die makellose Klassizität suggeriert, hatte man ohne abgeschmackte Ästhetizismen gar nicht mehr für möglich gehalten. Hier begegnet sie einem unverkrampft und mit umwerfender Selbstverständlichkeit.

Man hört japanische Musik heute vielleicht nicht richtiger, als man es vor fünfzig Jahren getan hat. Aber anstatt das scheinbar Fehlerhafte zu belächeln, liefert man sich dem Exotismus jetzt unkritisch aus. Der kolonialistischen folgt eine postkolonialistische Blendung, die der fremden Ästhetik kaum gerechter werden wird, die aber entschieden glücklichere Hörer hinterlässt. BJÖRN GOTTSTEIN