Im Fußballstadium

Die Welt immer mal von unten betrachten: In seinen Performances mixt der Choreograph Thomas Lehmen Tanz mit Klassenkampf und Ruhrpottcharme

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Vor vier Jahren war Thomas Lehmen unausstehlich. Da wollte er in der „bourgeoisen Kunstwelt“ vor allem gegen den intellektuellen Habitus provozieren. Er lernte Kung Fu und zog sich auf der Bühne aus. „Das war für mich wichtig“, meint er noch heute, „um rauszufinden, wie viel Kraft ich habe.“ Frauen reagierten vergrätzt, Männer fanden den Ansatz interessant.

Inzwischen polarisiert Lehmen sein Publikum nicht mehr in Männer und Frauen. In seinem dritten Solo „distanzlos“ hatte er zu einer beunruhigenden und berührenden Form gefunden. Er stellte sich als Kind des Ruhrpotts vor, das die Kunst an der Arbeitsmoral der Kumpels misst. Er zählte die Performances auf, die er sich ausgedacht hatte und die mit tagelanger und mühsamer Arbeit verbunden waren – doch je detaillierter er sie beschreiben konnte, desto mehr zweifelte er an der Notwendigkeit der Ausführung. Einmal analysierte er die Situation des Künstlers, der alles machen kann, was er will; dann wechselte er den Stuhl und versank vor dieser Freiheit in ratloses Schweigen.

Seit über einem Jahr tourt Lehmen erfolgreich mit „distanzlos“, demnächst auch nach Budapest, Stockholm und Hongkong. Zum ersten Mal kann er von der Kunst auch leben. Parallel mit dem Solo entstand sein erstes Gruppenstück „Baustelle. Einfahrt freihalten“, das der Berliner Choreograph auf Einladung des Goethe-Instituts Tallinn mit jungen Tänzern aus Estland entwickelte. Die „esk kompagnie“ eröffnet jetzt die Reihe „Tanz im Studio 1“ in der Tanzfabrik.

Wieder geht es um die Suche nach Wahrhaftigkeit. Annika Vamper, die in Tallinn auch als Ansagerin für Fernsehprogramme arbeitet, fordert eine Tänzerin auf, zwischen den für sich selbst notwendigen Bewegungen und den für das Publikum wichtigen zu unterscheiden. Lösen lässt sich die Aufgabe nicht. „Da habe ich gemerkt“, erzählt Lehmen, „dass meine Fragen, was wir mit der Kunst wollen, an den Erfahrungen der Esten vorbeigingen“. Weiter östlich sah sein dekonstruktivistisches Konzept allerdings ziemlich nach West-Import aus. „Ich habe viel dabei gelernt“, sagt Lehmen, „auch davon, was ich nicht verstehe.“

In „Baustelle. Einfahrt freihalten“ retten sich die jungen Performer derweil über die Hürden der Selbstreflexion mit Fußballspielen. Das scheint über alle kulturellen Differenzen hinweg prima zu funktionieren. Da verstummt jedes „Warum“, und jeder Schritt ist notwendig. Lehmen schwärmt von der Ästhetik des Spiels, wie dort Raum gestaltet wird, wie Improvisation und Technik ineinander greifen. Bis ein Bühnenstück seinen Wunsch nach Realität ähnlich befriedigen kann, ist es ein weiter Weg.

Kunst riecht bei ihm immer auch ein bisschen Klassenkampf, das ist er seiner Oberhausener Herkunft schuldig. Weil man heute alles auf der Bühne machen kann, ist der Gegenstand längst nicht mehr so entscheidend wie die Haltung. So plagt ihn zwei Tage vor der Berliner Aufführung die Frage, ob er nicht vor jeder Performance ein Statement abgeben soll, wie sehr ihn die politische Situation nervt. Man muss bei ihm weiter mit allem rechnen.

„Baustelle. Einfahrt freihalten“, bis 8. 10., jeweils 20.30 Uhr, Tanzfabrik, Möckernstraße 68