Aufstand in Belgrad

Demonstranten gegen das Regime von Jugoslawiens Präsident Milošević besetzen das Parlamentsgebäude. Radiostation und Polizeiwachen von der Opposition übernommen. Hunderttausende auf den Straßen. Militärs halten sich zunächst zurück

BELGRAD ap/afp/rtr/taz ■ Die Bevölkerung Belgrads revoltiert gegen das Regime ihres Präsidenten Slobodan Milošević und die offensichtliche Fälschung der Wahlen. Hundertausende Demonstranten gingen gestern in der jugoslawischen Hauptstadt auf die Straße. Nach Auseinandersetzungen mit der Polizei wurde das Parlamentsgebäude gestürmt. Menschen warfen Bilder von Präsident Milošević aus den Fenstern. Am Parlament brachen Brände aus. Besetzt wurde auch das Staatsfernsehen und mehrere Polizeiwachen.

Polizisten liefen am Abend zu den Demonstranten über. Auch eine Anti-Terror-Einheit soll zur Opposition übergelaufen sein. „Ich kann nicht gegen mein Volk sein“, wurde einer der Sonderpolizisten von einer oppositionellen Radiostation zitiert. Eine große Gruppe Demonstranten eskortierte ein Dutzend Polizisten aus dem Fernsehgebäude. Als die Beamten gefragt wurden, ob sie Milošević mehr liebten als ihr Land, riefen sie: „Serbien, Serbien“. Andere Polizisten flohen in Panik vor der Menge.

Gepanzerte Einheiten von Armee oder Polizei waren bis zum Redaktionsschluss nicht in Erscheinung getreten. Auch von Präsident Milošević lag keine Nachricht vor. Der ehemalige jugoslawische Generalstabchef Momčilo Perisić traf sich mit der Armeespitze. Dabei soll über eine Vermeidung größerer Unruhen verhandelt werden, meldete eine Belgrader Rundfunkstation. Auch der Chef der Sonderpolizei soll Kontakt zur Oppositionsführung aufgenommen haben.

Seit dem Morgen hatten sich aus allen Teilen Serbiens Autokonvois in Richtung Hauptstadt in Bewegung gesetzt. Dabei durchbrachen die Oppositionsanhänger Straßensperren der Polizei. Am Nachmittag um 15 Uhr war ein Ultimatum der Opposition an Präsident Slobodan Milošević abgelaufen, doch noch den Wahlsieg des Oppositionskandidaten anzuerkennen und zurückzutreten.

Zuvor waren weitere Einzelheiten der Entscheidung des Verfassungsgerichts über eine Annullierung der Präsidentenwahl vom 24. September bekannt geworden. Der Vorsitzende des Gerichts, Milutin Srdić, forderte eine Neuauflage der Wahl. „Wir werden noch mal von vorne beginnen, unsere Entscheidung ist endgültig“, sagte er.

Oppositionsführer Vojislav Koštunica lehnte noch vor der Erstürmung des Belgrader Parlaments die Wiederholung der Wahl kategorisch ab. Der DOS-Präsidentschaftskandidat schlug als Lösung der politischen Krise stattdessen vor, die umstrittenen Wahlzettel vom 24. September erneut auszuzählen. Dies sei der einzige Weg der Lösung der politischen Krise, sagte Koštunica. Der neueste Versuch von Milošević, seinem Volk zu trotzen, werde scheitern.

US-Außenministerin Madeleine Albright rief unterdessen Milošević zum Rücktritt auf. „Das Volk Jugoslawiens hat seinen Willen bekundet. Milošević sollte sich dem nicht widersetzen“, sagte sie. Bundeskanzler Schröder sagte, die Menschen in Jugoslawien wollten sich den Wahlsieg nicht mehr nehmen lassen. „Mein Appell: Wendet keine Gewalt an, schießt nicht auf das eigene Volk!“ Schröder äußerte die Hoffnung, dass das Volk sich durchsetzen werde. Zum Rücktritt von Milošević rief auch Großbritanniens Außenminister Robin Cook auf. Russlands Präsident Wladimir Putin erneuerte seine Einladung an Milošević und Koštunica.

In der Kohlegrube von Kolubara hielten sich gestern immer noch mehrere hundert streikende Arbeiter und Oppositionsanhänger auf. In einer Solidaritätsadresse der Minenarbeiter an das Oppositionsbündnis DOS hieß es: „Seid unbesorgt, wir erfüllen unsere Schuld gegenüber unserem Vaterland. Wir hoffen, dass wir heute Abend unseren Präsidenten Vojislav Koštunica per Akklamation begrüßen können.“ Am Vortag war ein Versuch der Polizei, die Mine zu stürmen, am Widerstand von tausenden Oppositionsanhängern gescheitert, die den streikenden Kumpeln zu Hilfe gekommen waren.

Russland lehnte es nach Angaben der Nachrichtenagentur Itar-Tass ab, ein mögliches Treffen der Balkan-Kontaktgruppe zu bestätigen. Das US-Außenministerium hatte zuvor erklärt, ein Treffen am Wochenende sei möglich. Zur Balkan-Kontaktgruppe gehören Russland, die USA, Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Italien. BO

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