: Feindliche Postgüter
DDR-Behörden ließen nichts unversucht, ihre Bevölkerung vom Empfang von Westpaketen abzuhalten. Die Beschlagnahme von Konsumgütern sollte in Ausstellungen über die Bosheiten des Klassenfeindes populär gemacht werden. Vergebens: Die Bevölkerung lamentierte
von ANDREAS HERGETH
Mit den Gesetzen konnte ein DDR-Bürger leicht kollidieren, und wenn es nur die Zollgesetze waren. In Dortmund lebte Onkel Walter, der uns alle sechs Wochen ein Paket voll mit ersehnten Dingen aus dem Westen schickte: Tütensuppen für Oma, Strumpfhosen für Mama, für die Kleinen Filzstifte und Süßigkeiten.
Wir waren damals über die Einfuhrbestimmungen der DDR nicht gut informiert. Zeitschriften und Bücher des Klassenfeindes waren nicht erwünscht, aber sonst? Onkel Walter wusste aber, worauf es ankommt. „Geschenksendung, keine Handelsware“, schrieb er stets auf unsere Pakete. Geschenke waren also erlaubt.
Warum lass ich mir da nicht mal eine leere Tonbandkassette schenken? Ich war fünfzehn und nahm mit meinem ersten (russischen) Rekorder Musik aus dem Radio auf. Leider waren die Kassetten mit zwanzig DDR-Mark fast unerschwinglich, drüben sollten sie nur drei, vier Westmark kosten. Ich bettelte so lange, bis Muttern Onkel schriftlich wissen ließ, dass sich Sohnemann nichts lieber wünsche als eine leere Tonbandkassette. Er versprach eine solche im nächsten Paket.
Welch Vorfreude! Dann kam es. Von außen sah das Paket wie immer aus, doch obenauf lag ein Vordruck: Der Zoll, Abteilung Soundso, hatte das Paket öffnen müssen, um ein nach Paragraph XY nicht erlaubtes Produkt zu entnehmen – meine Tonbandkassette!
Ich war sauer und grübelte, warum man einem armen DDR-Jugendlichen nicht mal eine unbespielte Tonbandkassette gönnt. Sie hätten sie ja prüfen und wieder zurück ins Paket legen können! Was mit meiner Kassette geschah? Von der Stasi benutzt, um Abhörprotokolle aufzunehmen? Endete sie im Schredder?
Möglicherweise diente sie als Anschauungsobjekt in einer Ausstellung des Zolls, bei der für gewisse Maßnahmen geworben werden sollte. Als durch den Mauerbau der Weg von Waren über die grüne Grenze endgültig unterbrochen war und in der Zeit danach die Einfuhrbestimmungen immer weiter verschärft wurden, mussten die DDR-Zollorgane massiv für die von ihnen nun effektiv und spürbar durchgeführten Kontrollen werben.
An die Arbeit der Organe kann sich Ursula Burkowski erinnern. Die Berlinerin lebte 1962 schon seit neun Jahren in einem Kinderheim. Die Kinder wurden „politisch erzogen“, deshalb wurde ein Ausflug angesetzt, der nicht in Wald und Wiesen, sondern in die Friedrichstraße führte. „Wir gehen in eine Ausstellung vom Zollamt und gucken uns an, was die Menschen aus dem Westen alles so reinschmuggeln in unser Land“, hatte die Erzieherin erzählt. „In einer Kabine stand ein Röntgenapparat, in den ein Zöllner ein Paket hineinstellte“, erinnert sich die damals Elfjährige.
Beim Durchleuchten des Inhaltes wurde eine zuvor nicht zu bemerkende Schallplatte sichtbar. Ein Teddybär diente als Versteck. In einer Glasvitrine war ein aufgebrochener Napfkuchen ausgestellt, der im Innern eine Pistole barg. Zu den ausgestellten, aus Westpaketen herausgefischten verbotenen Waren gehörten auch Bücher, Zeitungen und Groschenhefte. Besonders schockiert waren die Kinder von Fotos, die „Contergankinder“ zeigten. Diese Bilddokumente sollten beweisen, weswegen es so wichtig war, dass der Zoll darauf achtete, den Schmuggel von Arzneimitteln in Westpaketen aufzudecken.
„Wir waren überzeugt, dass das alles böse Menschen sind, die solche Dinge in Paketen in die DDR schmuggeln“, so Ursula Burkowski. Schon am 6. Februar 1956 verschickte das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen ein Schreiben an alle Haupt- und Bezirkspostämter. Es hatte „Popularisierungsmaßnahmen zur Verordnung über den Geschenk- und -päckchenverkehr“ zum Inhalt. Für die Öffentlichkeit sollte die Abteilung S gemeinsam mit den Dienststellen des Amtes für Zoll und Kontrolle des Warenverkehrs (AZKW) Ausstellungen durchführen. In diesen soll der Bevölkerung anschaulich gezeigt werden, warum eine Paket- und Päckchenkontrolle notwendig ist.“
Die untergeordneten Dienststellen bemühten sich, möglichst schnell mit der Aufklärungsarbeit zu beginnen. Pflichtbewusst listete am 16. Februar 1956 das Berliner Hauptpostamt 17 für das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen die „Ausstellungen mit Lichtbildervorträgen“ zur „Popularisierung“ der Paketkontrollen auf. Die Genossen rückten innerhalb des Monats Februar 1956 viermal aus und zeigten ihre Schau unter anderem in einer Schule und in der Staatsoper Unter den Linden.
Trotz dieser Ausstellungen reagierte das Volk oft unverständig. „Man sollte die Kontrollen einstellen, war die Meinung vieler“, hieß es etwa in der Freien Presse Plauen in einem Artikel vom 11. Juni 1954, in dem über eine Einwohnerversammlung mit „Mitarbeitern der Abteilung Sicherheit des Hauptpostamtes Plauen“ berichtet wurde. Der Zeitung zufolge äußerten sich viele vor allem deshalb derart, weil „die Verwandten oder Freunde in Westdeutschland doch nicht daran dächten, Dinge, die gegen Verordnungen der DDR verstoßen, den Sendungen beizupacken“.
Doch die Sache sehe eben anders aus: „Die Besucher staunten nicht schlecht, als sie einen Buchband der Stalinschen Werke sahen, dessen innerste Buchseiten so raffiniert ausgeschnitten waren, dass eine Pistole Platz hatte. Selbst das für Morde und Selbstmorde zu verwendende Pflanzenschutzmittel E 605 war zu finden.“ Trotz aller Anstrengungen erregte die Praxis der Paketkontrolle, die teilweise Entnahme von unerlaubten Waren, die Rücksendung von Paketen an den Absender in Westdeutschland, aber auch „verschwundene“ Geschenksendungen weiterhin den Unmut vieler Betroffener.
Deshalb verstärkten die Staatsorgane vor allem nach dem Mauerbau mit einer Verschärfung vieler Einfuhrbestimmungen ihre Werbemaßnahmen. Die Zollwanderausstellung vom Herbst 1962 sahen Zeitungsmeldungen zufolge allein in Berlin, Dresden und Leipzig mehr als 130.000 Menschen. Trotz der Aktivitäten zur „Popularisierung“ der „Maßnahmen“ gegen den Schmuggel zeigten sich DDR-Bürger weiterhin erbost, wenn Pakete von Westverwandten ihr Ziel in der DDR nur unvollständig oder gar nicht erreichten.
So schrieb sich eine damals siebzigjährige Frau aus Neuruppin in einer Eingabe vom 20. Mai 1968 ihren Frust von der Seele, „denn bereits das dritte Paket von demselben Absender“ hatte die Adressatin nicht erreicht. „In einem sozialistischen Staat kann man doch den Rentnern nicht Geschenkpakete wegnehmen“, beklagte sie sich. „Unser Staatsratsvorsitzender wird mit diesen Methoden bestimmt nicht einverstanden sein.“
Zwar gab es auch in den Siebzigerjahren noch vereinzelt Zollausstellungen, aber die dem Westen versprochene Liberalisierung der Zollgesetze ließ die Organe von den Propagandamethoden des Kalten Krieges Abstand nehmen. Stattdessen konzentrierte man sich auf „politische Multiplikatoren“, auf zuverlässige Genossen, die im Rahmen von Parteischulungen über die Arbeit des Zolls aufgeklärt wurden.
Mit den Verhandlungen zum Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten Anfang der Siebzigerjahre hatten sich die Bestimmungen gelockert. Durch die Erleichterungen blieb die Zahl der von hüben nach drüben geschickten Geschenksendungen auf einem durchgehend hohen Niveau. Diesen Warenfluss sollte der Zoll nun möglichst zügig kontrollieren, da die Bundesregierung permanent auf eine Verkürzung der Paketlaufzeiten drang. Doch wie überall fehlten auch hier Arbeitskräfte. Ein Jahr vor Ende der DDR waren rund dreißig Prozent der Arbeitsplätze in den Paketkontrollstellen unbesetzt. Neben der Bewältigung der Paketberge im innerdeutschen Warenaustausch nahm auch das Postaufkommen gen Osten erheblich zu.
Nunmehr hatten die Zollorgane oft zu unterbinden, dass knappe Waren ins befreundete sozialistische Ausland gelangten. Allein in einer Dezemberwoche des Jahres 1988 wurde in 285 Fällen eine „ungesetzliche Ausfuhr verhindert“, wie ein Schreiben der Zollverwaltung offen legt. In den Paketen, die nach Polen gingen, fand der Zoll 140 Kilogramm Gewürze, 160 Kilogramm Kaffee und 450 Zahnbürsten – Waren, deren Ausfuhr verboten war.
Aus ähnlichen Gründen gerieten bald die vietnamesischen Vertragsarbeiter ins Visier der Zollorgane. Diese waren in den Achtzigerjahren von handfesten logistischen und anderen Problemen geplagt, dass an erneute „Popularisierungskampagnen“ kaum zu denken war.
Doch zurück zu meiner nie erhaltenen Tonbandkassette: Die DDR hat die Verordnungen zur Einfuhr von Waren aus dem nichtsozialistischen Ausland immer wieder in Nuancen verändert. So wurde im November 1987 das Einfuhrverbot von Tonbandkassetten aufgehoben. Man begründete dies mit der Praxis anderer sozialistischer Länder, welche Tonbänder schon lange passieren ließen. Intern waren sich die Verantwortlichen bewusst, dass man auf diese Weise viel konfiskatorischen Aufwand sparen konnte.
Irgendwie ist die neue Verordnung allerdings nicht bis zu mir vorgedrungen. Ich hätte doch sofort an Onkel geschrieben und eine neue unbespielte Kassette erbeten, die dann auch sicher angekommen wäre.
ANDREAS HERGETH, 34, Stahlschiffbauer, Kulturwissenschaftler und Journalist, lebt seit neun Jahren in Berlin. Er verschickt und empfängt überhaupt keine Pakete mehr
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