Das alte Mädchen wird geschleift

Heute tritt England gegen Deutschland zum letzten Match in der Kathedrale des Fußballs an: Wembley, ein Stadion voller tragischer, mystischer Momente. Nach dem Spiel schaffen Bagger Platz für eine sehr unbritisch-schnöde Sportarena

aus London BERND MÜLLENDER

Freitagmittag: Selbst auf des englische Wetter ist kein Verlass. Nicht mal klassisch englisch-fiselig regnen will es. Stattdessen: Sonne. Kein schmuddeliger, trauriger Niesel , wie es sich gehören würde, wenn am nächsten Tag eines der großen Symbole aus den Zeiten des British Empire das Zeitliche segnen wird. Heute, Samstagnachmittag, findet in Wembley das letzte Fußballmatch statt, England-Deutschland, WM-Qualifikation.

Wembley, die Kathedrale des Fußballs im Nordwesten Londons. Das berühmteste Stadion der Welt. Der mit Legenden gespickte Mythos. Der Briten Heiligtum. Für uns Deutsche ist Wembley weniger die Metapher für ein Stadion, sondern allein für ein Tor. 1966. Das Wembley-Tor. Das Nichttor-Wembley-Tor: Damals, Samstag, 30. Juni gegen 17 Uhr hatte Geoff Hurst im WM-Finale gegen Deutschland West, 101. Minute, an die Lattenunterkante geschossen; ein unseliger Sowjetbürger namens Tofik Bachramow an der Seitenlinie nickte fahnenwedelnd, und das Finale war entschieden. Bald gab es ein eigenes Buch über diese einzige Sekunde, später kamen Computersimulationen der Wahrheit nahe. Oder nicht.

Auch wenn wir um Wembleys ganzen Ruhm wissen, auch wenn wir uns an das 3:1, den ersten deutschen Fußballsieg daselbst (1972; Netzer, Müller) erinnern oder an das EM-Halbfinale 1996, als Gary Southgate im Elfmeterschießen versagte und die Bertideutschen Europameister wurden: in Deutschland steht Wembley für das „Tor des Jahrhunderts“. Ein tragischer Moment: Das deutsche Fernsehen kündigt nicht das heutige Spiel als solches an, sondern: „Wembley-Tore live im ZDF“. Für englische Fußballinteressierte ist Wembley mehr: „Der Treffpunkt der Legenden“ (The Observer), der 77 Jahre stand, seit 1923. Ein nationales Symbol. Und Geoff Hurst ist längst Sir Geoffrey.

Die erste Veranstaltung im „Empire Stadium“, wie Wembley damals noch hieß, das Pokalfinale Bolton Wanderers gegen West Ham, war 1923 gleich eine der geschichtsträchtigsten: Statt der zugelassenen 125.000 Menschen waren für einen Florin Eintritt (heute 10 Pence) weit über 200.000 Neugierige eingedrungen. Der Polizist George Scorey, der nie zuvor ein Fußballspiel gesehen hatte, und sein weißer Hengst Billy retteten das Spiel. Sie drängten die Massen beiseite, Scorey sagte später: „Billy schien zu verstehen, was verlangt war. Er stubste all die Leute, die durchaus guten Willens waren, mit seiner Nase beiseite, bis die Linien frei waren.“ Das Spiel heißt bis heute „The White Horse Final“.

Jeder in Britannien hat seine Lieblingslegende. Klar, auch das Finale 1966, Englands großer und einziger WM-Titel, ist dabei. Oder eines der zahllosen Pokalfinale: Als Stanley Matthews mit Blackpool zauberte. Als 1979 ManU in den letzten Minuten gegen Arsenal ein 0:2 aufholte, um Nick Hornbys Kanonieren in der Nachspielzeit noch den Sieg zu schenken. Oder das Heldenepos um Bert Trautmann, den deutschen Torwartimport von Manchester City, der 1956 das Cupfinale mit gebrochenem Genick spielte. City gewann.

Ungern wird an 1953 gedacht, als Ferenc Puskas und seine Ungarn als Erste die Fußballmutterländler hier besiegen konnten. Alle lieben die stadiontypische Akustik, die Symphonie des Gebrülls, den „Wembley-Roar“. Und zum Mythos gehören Mysterien: Tief unten im einst weißen, heute schmuddeligen Gemäuer ist die Umkleide Süd, genannt The Lucky One, weil hier angeblich auffällig häufig die späteren Sieger in die Trikots schlüpften.

Natürlich werden sich heute Nachmittag hier die Engländer umziehen. Und 78.000 werden den letzten Auftritt zelebrieren. Die beiden Deutschen aus Liverpool freuen sich schon: „Dieses Spiel wird in die Annalen eingehen“, weiß Christian Ziege. Und Didi Hamann will nicht „vor der Größe Wembleys erstarren“, sondern gut zuhören, wenn alle God save the Queen intonieren: „Das ist super zum Antörnen.“ Viele Fangesänge, etwa „Bubbles“, sind in Wembley entstanden. „Wenn du rauskommst aus dem Spielertunnel“, hat ein Kicker mal gesagt, „legt sich der Klangteppich wie eine Decke auf dich drauf.“

In Wembley boxte einst Muhammad Ali um die WM, hier fand 1948 Olympia statt, banale Hunderennen und natürlich unzählige große Rugby-Matches , auch das „Life Aid“-Benefizkonzert von Bob Geldorf vor 15 Jahren. Jetzt wird den Erinnerungen der Ort genommen: „It’s all over. The old girl has to go.“ Das Cupfinal wird im nächsten Mai in Cardiff stattfinden. „Das alte Mädchen muss gehen“, steht in der Zeitung – als würde den Menschen die Geliebte geraubt. Aber wenigstens hätten die beiden mächtigen weißen Türme am Stadioneingang, die der Arena den Anschein einer Trutzburg gaben, bleiben können. Zwischen the twin towers hängt ein Transparent mit der Aufschrift: „The final whistle“ – der letzte Pfiff. „Wembleys Zwillingstürme sind wie die Coke-Flasche – einzigartig“, weiß der Observer. Den Sunday Telegraph schaudert es: „Wembley ohne Zwillingstürme – das ist wie Paris ohne Eiffel oder wie Pisa kerzengerade.“ Altmeister Nobby Styles, das Rauhbein von 1966, lacht aus der Zeitung: „Genießt jede Sekunde.“ Doch Sportminister Tony Banks meint: „Die Türme haben absolut keine Funktion. Das sind nur Betonblöcke.“ Gäbe es auf Unbritishness die Todesstrafe, hier wäre sie vollstreckt worden. Stattdessen begab sich Reichstagsarchtitekt Sir Norman Foster an die Planungen für Britanniens Moderne: den Superdome. Ohne Türme. Mit Kosten von geschätzt einer Milliarde Pfund. 2004 soll er fertig sein.

„Nostalgie“, sagt heute Michael Richardson, ein Schlagzeuger, der 1966 als 17-Jähriger, kurz vor dem Schlusspfiff des WM-Finals gegen Deutschland, auf den Platz stürmte: „Nostalgie ist eben auch nicht mehr das, was sie mal war.“ Es wird diskutiert, dass die Türme wenigstens Stein für Stein abgebaut werden und woanders wieder zusammen gesetzt werden. Kosten: 10 Millionen Mark Minimum.

Hoffnung schöpft der Observer bei seinem Farewell: Es werde im neuen Nationalstadion immerhin bequemere Sitze für 90.000 Leute geben, für jeden mehr Beinfreiheit als auf dem Queens Seat heute und viele viele Rolltreppen. Am wichtigsten aber sei vielleicht dieser „kleine Touch von Luxus“: Wembleys Ende wird auch „das Ende jener Urinale sein, die dir automatisch und regelmäßig deine Schuhe versauten“. In einer Broschüre über den neuen Dome ist zu lesen: „Das neue Stadion wird mehr Toiletten unter seinem Dach haben als jedes andere Gebäude der Welt.“ 1.985 Stück sind geplant. Ganze 361 rottende Klos sind es in Old Wembley.

Die Sonne scheint, wo es doch regnen sollte. Am 6. November kommen die Bagger. God bless you, old girl.