Im Streit mit dem Zeitgeist

Die Zeit der außerparlamentarischen Opposition ist vorbei, öffentliche Grundsatzdebatten haben Seltenheitswert – Konsens heißt das moderne Zauberwort. Was bedeutet das für die taz?

Die taz ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Viel zu brav und angepasst. Die guten Schreiber sind doch längst weg – so ist jedenfalls gelegentlich in anderen Medien zu lesen. Manche Kollegen, die bei wirtschaftlich gesünderen Zeitungen arbeiten, finden uns nicht mehr revolutionär genug. Deshalb denken sie öffentlich darüber nach, ob die taz eigentlich überhaupt noch gebraucht wird. Das ist eine grundsätzlich sehr gute Frage. Sie sollte viel öfter gestellt werden. Wird Bertelsmann eigentlich noch gebraucht? Und Holtzbrinck?

Wir werden von der Genossenschaft und von unseren Abonnenten und Abonnentinnen bezahlt. Wenn sie nicht fänden, dass es uns geben muss, dann wären wir vom heiß umkämpften Zeitungsmarkt mit seinem noch heftiger umkämpften Anzeigengeschäft schon lange verschwunden. Vielen geht es auf die Nerven, dass die taz regelmäßig mit Rettungskampagnen um Solidarität werben muss. Uns auch. Das ändert nichts daran, dass die Geschichte unserer Zeitung eine Erfolgsgeschichte ist. Die Sensation besteht darin, dass wir schon so lange überleben konnten – nicht darin, dass wir immer wieder in schwere See geraten.

Aber ist nicht heute alles anders als in den Gründungszeiten? Die Zeit der Bewegungen ist vorbei, die einst die taz hervorgebracht haben. Das so genannte alternative Milieu, das die Zeitung früher getragen hat, gibt es längst nicht mehr. Wäre es nicht einfach eine konsequente Folge der historischen Entwicklung, wenn nun auch die taz ehrenvoll zu Grabe getragen würde? Nein, das wäre es nicht. Allenfalls eine Verbeugung vor dem Zeitgeist.

Es stimmt, dass die Friedensbewegung heute nicht mehr von sich reden macht, und dass jüngere Frauen heute auf andere Weise um den ihnen zustehenden Platz in der Gesellschaft kämpfen als die Feministinnen der Siebzigerjahre. Zieht daraus jemand den Schluss, alle Probleme der Vergangenheit seien gelöst? Ist also der ewige Friede ausgebrochen, die Gleichberechtigung der Frauen erreicht, der Kampf gegen den Missbrauch staatlicher Gewalt überflüssig? Sind die wirtschaftlichen Verhältnisse gerecht, haben Minderheiten nichts mehr zu befürchten, wird dem Schutz der Umwelt höchste Priorität eingeräumt?

Es hat wohl keine Zeit seit Gründung der Bundesrepublik gegeben, in der so große Teile der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland so wenig Aussicht hatten, sich mit ihren Forderungen Gehör zu verschaffen. Das Ende des Kalten Krieges, der Machtzuwachs supranationaler Organisationen wie der Europäischen Union und die Wettbewerbsbedingungen einer globalisierten Wirtschaft haben zu einer Annäherung der Parteien aneinander geführt. Sie erfüllen ihre traditionelle Rolle als Vertreterinnen unterschiedlicher Gruppen immer weniger, und sie werben längst nicht mehr mit konkurrierenden Gesellschaftsentwürfen um Stimmen.

Der Wettbewerb zwischen den Parteien ist von der Ebene der Programmatik auf die Ebene der Technokratie herabgesunken. Die Entwicklung der Grünen ist für diese Entwicklung ein besonders gutes Beispiel. Sie haben dieselben Wurzeln wie wir und wurden einst von denselben Bewegungen getragen. Aber die Wege der Regierungspartei und der taz haben weit auseinander geführt. Die Grünen haben ihren – kleinen – Anteil an der Macht erkämpft. Jetzt müssen sie von Fall zu Fall entscheiden, wo sie ihren Prinzipien treu bleiben und wo sie sich dem angeblichen Sachzwang beugen wollen. Das ist ihr Problem und das ihrer Wählerinnen und Wähler.

Wir haben dieses Problem nicht. Die taz hat die Aufgabe, die Grünen genauso sorgfältig bei ihrem Tun und Lassen zu verfolgen wie alle anderen Parteien. Das macht unsere Zeitung eben gerade nicht überflüssig. Sondern besonders notwendig.

Es gibt inzwischen im gesamten politischen Spektrum einige Politiker, denen die Gefahren der Entwicklung allmählich bewusst werden und die den Bedeutungsverlust des Parlaments beklagen. Lorbeeren lassen sich damit nicht ernten. Runde Tische und Absprachen in kleinen Konferenzräumen sind in Mode, die große Grundsatzdebatte im Bundestag ist es nicht. Es führt dazu, dass sich bei immer mehr Themen, von der Demokratisierung der Europäischen Union über den Kosovokrieg bis zur Renetenreform, viele WählerInnen mit ihren Ansichten im Parlament nicht mehr repräsentiert sehen – nicht in einem Umfang, der auch nur annähernd ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht. Das verleiht dem Begriff der Gegenöffentlichkeit neues Gewicht. Für diesen Begriff steht die taz. Nach wie vor.

Vieles von dem, was in unserer Zeitung steht, könnte genauso auch in einer anderen Zeitung zu lesen sein – vielleicht sogar alles. Aber nicht alles gleichzeitig. Es gibt bei der taz nicht das, was der Chefredakteur einer anderen Zeitung einmal als „Meinungskorridor“ bezeichnet hat. Wir leisten uns Meinungspluralität auch innerhalb der eigenen Redaktion. Deshalb können Politiker und Politikerinnen nicht darauf vertrauen, dass wir sie schon nicht allzu hart angehen werden, weil wir doch grundsätzlich auf derselben Seite stehen. Sie können sich nicht einmal darauf verlassen, dass wir sie kritisieren werden. Wir sind unberechenbar. Das ist für die Herrschenden zu allen Zeiten die unbequemste aller möglichen Formen der Meinungsäußerung gewesen. Wir werden unberechenbar bleiben.

BETTINA GAUS