DER WESTEN DARF JETZT NICHT DAS INTERESSE AN SERBIEN VERLIEREN
: Das Bedürfnis nach dem Oberteufel

Wie viel Hightech in dem Bunker von Milošević auch aufgehäuft ist und wie waffenstarrend seine Prätorianergarde auch sein mag – es wird von Stunde zu Stunde unwahrscheinlicher, dass er noch einmal die Initiative an sich reißen kann. Der Wechsel der Loyalitäten im Machtapparat scheint abgeschlossen. Und die Mission des russischen Außenministers Iwanow wird sich darauf beschränken, den sicheren Weg ins Exil für den Familienclan von Milošević zu erkunden. Der Wald von Dunsinan ist in Sichtweite vorgerückt.

Aus den Hauptstädten des Westens hört man gedämpfte Freude, Gesprächsangebote und die Zusicherung, zum frühestmöglichen Zeitpunkt die Sanktionen aufzuheben. Dürfen sich die westlichen Staatsleute jetzt gegenseitig auf die Schultern klopfen und darf „Mr. Europa“, Xavier Solana, resümieren, dass die Politik der westlichen Mächte zu guter Letzt ihre Früchte getragen habe? Wie nicht anders zu erwarten, lautet die Antwort Ja und Nein.

Ja, weil in den Jahren nach dem Kompromiss von Dayton der Westen endlich verstanden hatte, dass die Herrschaft von Milošević auf permanenter Kriegsmobilisierung beruht; dass eine Transformation Serbiens „von oben“ in Richtung eines friedlichen, kompromissbereiten, des Wiederaufbaus der staatlichen und ökonomischen Strukturen Serbien fähigen Regimes unter seiner Führung nicht möglich war. Weshalb sein Sturz die Voraussetzung eines Neubeginns bildete.

Nein, weil die westlichen Mächte es viel zu lange unterlassen haben, zwischen dem Machtapparat und den vielgestaltigen politischen wie gesellschaftlichen Kräften Serbiens zu unterscheiden. Das Bekenntnis der westlichen Regierungen zur demokratischen Opposition blieb stets formelhaft. In der Praxis sorgten sie dafür, dass – etwa durch das Bombardement des vergangenen Jahres – sich eine tief gehende Entfremdung der Bevölkerung zum Westen auftat. Sie hält auch jetzt noch an.

Die Konzentration des Westens auf Slobodan Milošević und seinen Clan hatte natürlich einsichtige, pragmatische Gründe – schließlich war er im Besitz der Staatsmacht. Gleichzeitig entsprach sie aber einem tief sitzenden Bedürfnis nach dem radikal Bösen als Gegenüber, nach dem Oberteufel. Ist der erst mal weg, werden sich auch die Unterteufel vertrollen. Dieser Hang, Analyse durch (prinzipienloses, weil von Fall zu Fall an- und abstellbares) Moralisieren zu ersetzen, droht sich jetzt fortzusetzen. Die Gefahr ist greifbar, dass jetzt alle meinen, nach dem Abgang des „Tyrannen“ würde alles wie geschmiert laufen und ein sanfter Goldregen über Serbien alle Schwierigkeiten wegspülen.

Vergessen wir nicht: Hunderttausende haben am vergangenen Donnerstag vor dem Belgrader Parlamentsgebäude in den Ruf „Srbia, Srbia“ eingestimmt und damit die Vorherrschaft des nationalen Diskurses unterstrichen. Gleichzeitig verbergen sich aber hinter dieser Einheitlichkeit ganz unterschiedliche politische Positionen. Die Herausforderung an die Politik der westlichen Mächte (und Russlands) hinsichtlich Jugoslawiens wird jetzt nicht kleiner, sondern größer. Wie kann eine Lösung des Kosovo-Problems aussehen, die die serbische Bevölkerung nicht wieder unter dem Banner der beleidigten Märtyrernation zusammenschließt? Wie kann der Aufbau der Wirtschaft und der demokratischen Strukturen so unterstützt werden, dass der Westen nicht als Lord-Protektor auftritt – wie in Bosnien? Wie wird aber gleichzeitig gewährleistet, dass die vorherrschenden Clan- und Verbrecherstrukturen zerschlagen werden? Mit den studentischen Lichtgestalten von Otpor allein ist das nicht zu schaffen.

Schön, dass jetzt der Himmel aufreißt, dass sich neue historische Perspektiven ergeben, bis zur Aufnahme Jugoslawiens in die EU. Man muss es nur wollen. Am schlimmsten wäre jetzt seitens des Westens ein Ökonomismus, der wähnt, es ließe sich alles finanziell regeln, und ein desinteressiertes Wohlwollen. Beide Gefahren sind stets auf der Lauer. CHRISTIAN SEMLER