Drei Seelen in einer Brust

Jugoslawiens neuer Präsident Koštunica ist ein Konservativer, der Serbiens Bauern mit der städtischen Opposition verbündete – eine brüchige Allianz

von RÜDIGER ROSSIG

Durchmarsch gegen Milošević? Noch vor drei Tagen hätte kein Beobachter ernsthaft gewagt zu behaupten, dass es möglich sei, den Belgrader Potentaten mit einer einzigen Massendemonstration zu stürzen. Gegen die Demonstrationen von 1991 hatte Milošević Panzer auffahren lassen. Die Proteste gegen den Wahlbetrug 1996/97 scheiterten – und die damaligen Oppositionsführer waren wesentlich charismatischer als der heutige.

Tatsächlich gilt der Mann, den selbst Milošević’ bisheriger Staatssender „Radio-Televizija Srbije RTS mittlerweile „Präsident der Bundesrepublik Jugoslawien“ nennt, allenfalls als ehrliche Haut. Aber: Vojislav Koštunica ist auch der einzige Politiker in Jugoslawien, über den nie ein Korruptionsgerücht kursierte. Für den 1944 in Belgrad geborenen Juraprofessor spricht zudem in den Augen vieler Menschen, dass er nicht nur nie mit Milošević paktierte, sondern auch nie Mitglied „der Partei“, des Bundes der Kommunisten war.

Was Wunder: Als Sohn eines königlich-jugoslawischen Offiziers wurden Vojislav Koštunica Antikommunismus und Nationalismus gewissermaßen in die Wiege gelegt. 1974 bekam der damals 30-jährige Jurist erstmalig Schwierigkeiten mit der titoistischen Obrigkeit. Er hatte die Föderalisierung Jugoslawiens als gegen die Interessen des serbischen Volkes gerichtet kritisiert. Das kostete ihn seinen Job. Trotzdem blieb Koštunica bei seinen nationalen Thesen – privat und unter Freunden.

An eine große Karriere war unter diesen Umständen natürlich nicht zu denken. Immerhin durfte Koštunica forschen, in Fachzeitschriften veröffentlichen, Kongresse besuchen. Doch erst als der serbische Nationalismus Mitte der Achtziger in den intellektuellen Zirkeln Belgrads Mode wurde, tauchte er wieder auf der politischen Bühne auf.

1990 gehörte Koštunica mit Zoran Djindjić zu den Gründern der „Demokratischen Partei“ DS, die er jedoch nach zwei Jahren wieder verließ, weil ihm ihr zu wenig der nationalen Sache verpflichtet war. Dann gründete er die „Demokratische Partei Serbiens“ (DSS), die sich in den Jahren des Bosnien-Krieges als nationalistische Kritikerin der internationalen Gemeinschaft hervortat. Die im Volksmund „Buspartei“ genannte Organisation – angeblich haben alle Mitglieder in einem Minibus Platz – kritisierte nicht nur den Dayton-Friedensvertrag, sondern auch die Kosovo-Politik des Westens als antiserbisch.

Gerade das dürfte bei den Wahlen für viele serbische Wähler den Ausschlag gegeben haben. Als Antikommunist und Nationalist ist Vojislav Koštunica unter Serben glaubwürdig geworden, denn er ist der wohl erste Oppositionspolitiker des Landes, der weder nach Westen noch nach Stadt oder überhöhtem Intellekt riecht. Obwohl Akademiker, ist Koštunica auch für die oft national eingestellten Menschen aus ländlichen Regionen wählbar. Sie können zu ihm aufsehen, aber er ist einer von ihnen. Dazu passt, dass viele der Demonstranten, die vorgestern Koštunicas Sieg in die jugoslawische Hauptstadt trugen und dadurch Milošević stürzten, mit Traktoren und anderem landwirtschaftlichem Gerät angereist waren – ein Bild, das bis vor kurzem in erster Linie für Veranstaltungen von Milošević’ „Sozialister Partei“ (SPS) stand.

Die Basis von Koštunicas Wahlsieg bildeten zwei Komponenten: Das städtische, ehemals transjugoslawische Serbien oder was 13 Jahre Milošević davon übrig gelassen haben, und das ländliche, nationalserbisch orientierte Serbien, das bis vor kurzem hinter „Slobo“ stand. So ist auch zu erklären, was für unterschiedliche Charaktere auf den Bildern vom Belgrader Aufstand zu sehen gewesen sind: Hippies, Punker, Skinheads, aber auch Normalbürger, einfache Bauern und Leute, die in ihren Cetnik-Uniformen eher auf einer Veranstaltung von Extremisten für Großserbien zu vermuten wäre.

Die studentischen Demonstranten von 1996/97; die großstädtischen Mitglieder der Friedensbewegungen gegen die Kriege in Kroatien, Bosnien und Kosovo; die ob „Slobos“ Wahlbetrug wütenden, aber doch nationalserbisch gesinnten Bauern: Das sind die drei tragenden Säulen des oppositionellen Sieges von 2000. Doch über ihre Gegnerschaft gegen das System Milošević hinaus gibt es kaum etwas, was sie eint.

Das zeigte sich bereits bei der Bildung der Parteienkoalition „Demokratische Opposition Serbiens“ DOS, die Koštunica als Präsidentschaftskandidaten aufgestellt hatte. Mit dabei sind – neben seiner eigenen Partei DSS und seiner früheren Partei DS – so unterschiedliche Organisationen wie die „Sozialdemokratische Partei“ (SDP) von Milošević’ Exgeneralstabschef Momcilo Perisić, die reformistisch-anarchistische „Sozialdemokratische Liga der Vojvodina“ unter dem Exhippie Nenad Čanak, die Minderheitenpartei der jugoslawischen Ungarn und die regionalistisch-agrarische „Liga für die Sumadija“. Das ist ein sehr weiter Spagat. Koštunica wird beweisen müssen, ob er dazu flexibel genug ist.

Koštunica geht mit diesem Problem um, indem er Inhalte meidet. Bisher hat der Wahlsieger kein einziges wirklich brennendes Thema der jugoslawischen Politik berührt. Die Kriege in Exjugoslawien und ihre Aufarbeitung, die politischen Gefangenen, die katastrophale soziale Lage im Lande – fast möchte man verstehen, warum der neue Präsident Jugoslawiens lieber in den idealistischen Gefilden des nationalen Diskurses verweilen will. Eines ist aber bereits klar: In der „nationalen Frage“ ist von Jugoslawiens neuem Staatsoberhaupt kein Kurswechsel zu erwarten. Das machte Koštunica in einem ersten Interview auf dem ehemaligen Milošević-Sender RTS-bereits in der Nacht zu gestern glasklar – sicher nicht nur für regelmäßige Hörer des Staatssenders.

Koštunicas Schlagworte sind – neben „Demokratie“, über deren Form und Inhalt man ja bekanntlich streiten kann – Begriffe wie „Ehre“, „Stärke“, und immer wieder – „Serbien“. Mit dieser Wortwahl erinnert der Neue eher an die nationalistischen „Oppositionellen“ Vuk Drasković und Vojislav Šešelj. Beide haben seit den frühen 90er-Jahren mit ihren Parteien, der „Serbischen Erneuerungsbewegung“ (SPO) und der „Serbischen Radikalen Partei“ (SRS) oft das Zünglein an der Waage für Milošević gespielt. Mal waren sie Opposition, dann wieder Teile des Regimes. Nun ernennt sich Drasković selbst zum Mitglied bei DOS – ganz so, als habe seine SPO nicht einen eigenen Kandidaten gegen Koštunica aufgestellt. Und Šešelj schert aus seiner Koalition mit Milošević’ Sozialisten aus – und hält Kurs auf den neuen Präsidenten.

Der wird neben seiner heterogenen eigenen Basis und unzuverlässigen Verbündeten wie Šešelj und Drasković nun auch seine zukünftigen Hauptverhandlungspartner im Staatsrat der Bundesrepublik Jugoslawien treffen müssen: den montenegrinischen Präsidenten und Milošević-Feind Milo Djukanović sowie den Präsidenten der Teilrepublik Serbien, Milan Milutinović, einen Sozialisten. Ein Durchmarsch wie auf den Straßen von Belgrad wird das nicht.