Die Nacht der Wende

Polizisten verbrüdern sich mit Demonstranten, Fernsehsender erklären sich für unabhängig, Gerüchte machen die Runde

aus Belgrad ANDREJ IVANJI

Was für ein Bild. Das wuchtige Parlament mit seinen weißen Säulen und seinem hellgrünen Kuppeldach besetzt von Demonstranten. Und dabei sollte es nicht bleiben in dieser Nacht.

Als Nächstes ist das staatliche Fernsehen dran. Eine Menschenmenge davor. Schüsse sind zu hören. Doch ernsthaft verteidigt keiner der Polizisten das Gebäude. Die Männer in den blauen Uniformen kommen heraus und umarmen die Demonstranten. Requisiten werden ausgetauscht: Die Polizisten bekommen Trillerpfeifen, ein Symbol der jahrelangen Massenproteste in Serbien, und die jubelnden Bürger schmücken sich mit Handschellen. Bald darauf wird das verhasste Staatsfernsehen abgeschaltet, wird schlicht für unabhängig erklärt.

Polizisten verbrüdern sich

Vor einer Polizeistation in der „Majke Jevrosime“ Straße sieht es nicht anders aus. Polizisten verlassen ihre Wache und schließen sich den Demonstranten an. Doch einige wütende Bürger wollen die Polizeistation demolieren. Es wird geplündert. „Hört auf damit! Raus mit euch! Das ist unsere Polizei, sie ist auf der Seite des Volkes“, schreit Milan St Protic, der neue Bürgermeister Belgrads ihnen zu. Das wirkt. Die aufgebrachte Menge gehorcht.

Einige Stunden lang herrscht in Belgrad nur noch eines: Chaos. Menschenmassen ziehen durch die Innenstadt – ohne Ziel. Beißendes Tränengas lässt Menschen würgen – überall, wo es nicht windig genug ist. Einzelne Schüsse und ganze Salven knallen – aus den unterschiedlichsten Richtungen. Kirchenglocken ertönen. Ein Militärhubschrauber fliegt dröhnend über das Stadtzentrum. Niemand weiß, was die nächsten Stunden bringen werden.

Doch dann: „Studio B ist befreit!“, ertönt der Siegesruf durch die Belgrader Innenstadt. Der Fernsehsender – einst Sprachrohr der Opposition, dann von Milošević gleichgeschaltet – beginnt sein Programm mit den Worten: „Das Volk hat gesiegt. Wir sind wieder frei!“

Wer dachte, dass nun alles gelaufen, dass nun der Machtkampf zwischen Volk und Diktator entschieden sei, sollte sich getäuscht sehen: Panzer rollen auf das Stadtzentrum zu. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Und wie schon Stunden zuvor beim Anblick des Hubschraubers herrschen Angst und Panik. „Niemand darf weggehen“, schreit da ein Demonstrant verzweifelt – und nicht umsonst. Bald darauf ertönt bei Zehntausenden trotzig das Lieblingslied der Massenproteste: „Rette Serbien und bring dich um, Slobodan Milošević!“

Jenseits des wilden Schauplatzes auf den Straßen Belgrads ziehen sich die Führer der „Demokratischen Opposition Serbiens“ (DOS) in das Rathaus zurück. Der Kommandant der Belgrader Polizei will mit ihnen ins Gespräch kommen, um „Blutvergießen zu vermeiden“, wie es heißt. Gleichzeitig versucht einer der DOS-Führer, Exgeneralstabschef, Momcilo Perisić, Kontakt zur Armeespitze aufzunehmen. Der Machtkampf ist immer noch nicht entschieden – da heißt es Blutvergießen vermeiden.

Von dem Regime ist derweil nichts zu hören, nichts zu sehen. In den frühen Abendstunden ist nur eines sicher: Die Demonstranten halten das gesamte Stadtzentrum, das Parlament, das Regierungsgebäude besetzt. Doch eine Frage bleibt offen: Was wird Slobodan Milošević unternehmen? Angeblich wird der Bezirk Dedinje, in dem sich seine Residenz befindet, von Panzern beschützt.

Endlich: Koštunicas Rede

In den späten Abendstunden erscheint der ungeduldig erwartete Vojislav Koštunica auf dem Balkon des Parlaments und begrüßt die Menge mit den Worten: „Guten Abend, befreites Serbien!“ Sodann verkündet der Kandidat der Opposition: „Unser großes und schönes Serbien ist aufgestanden, um einen Mann loszuwerden.“ Jubel, Begeisterung, Zurufe von unten. „Ich fühle mich als Präsident. Ich bin Präsident dank eurer Stimmen und dank der Grundregel der Demokratie: Eine Mehrheit von Menschen entscheidet. Das ist es, was am 24. September passiert ist“, erinnert Koštunica auf dem Balkon noch einmal an die Wahl, die die Opposition gewonnen hatte. Zum Schluss appelliert er noch einmal an die Demonstranten: „Ich bitte euch, nichts in dieser schönen Stadt zu beschädigen, keine Steine auf Gebäude zu werfen, denn dies alles gehört zu unserem schönen Serbien“ und verspricht „ein neues demokratisches Leben beginnt in Serbien“.

Als Koštunica dann um Mitternacht im staatlichen Fernsehen erscheint und als der „neue jugoslawische Bundespräsident“ vorgestellt wird, da wissen es alle: Milošević hat verloren.

Nun beginnt die große Volksfeier. Jubel, Begeisterung, Freude. Ein Moment des Triumphs. Mit einem Jahrzehnt Verspätung erleben die Bürger Serbiens das, was die Deutschen beim Fall der Berliner Mauer erlebt haben: das Ende eines Systems. Auf dem großen Platz zwischen dem Bundesparlament und dem Rathaus wird bis in die frühen Morgenstunden gefeiert.

Viele Menschen, die aus der Provinz nach Belgrad mit dem festen Entschluss gekommen sind, nicht mehr wegzugehen, bevor Milošević besiegt ist, schlafen erschöpft auf Bänken, unter Bäumen des Parks vor dem Rathaus. Es ist ihr Sieg. Der Sieg all jener, die aus ganz Serbien an diesem entscheidenden Tag in die Hauptstadt gekommen sind, alle Polizeisperren durchbrochen haben, um die müden, von unzähligen Massendemonstrationen verbrauchten Belgrader zu unterstützen.

Gerüchte über Milošević‘ Verbleib

Über den Aufenthaltsort von Milošević gibt es immer wieder neue Gerüchte. Eines berichtet von drei russischen Antonow-Flugzeugen, die den Belgrader Militärflughafen am Abend verlassen haben sollen – mit Milošević und Familienanhang an Bord und Richtung Kasachstan oder Russland. Ein anderes, das sich auf kroatische Quellen stützt, spricht davon, dass Milošević sich an der Grenze zu Rumänien aufhalte. Wie auch immer, hier wird erst einmal gefeiert.

Freitagmorgen sieht die Belgrader Innenstadt wüst aus. Überall Dreck, umgeworfene Müllcontainer, ausgebrannte Autowracks, beschädigte Busse. Die Müllabfuhr hat ihre Arbeit noch nicht wieder aufgenommen. Doch niemanden hier stört das. Das Siegesfest wird fortgesetzt.

Nach etlichen Krisensitzungen schaffen es die DOS-Führer, ein wenig Ordnung in die revolutionären Zustände zu bringen. Das Stadtparlament wird konstituiert. Die Polizei wird gebeten, ihrer üblichen Arbeit nachzugehen, Vandalismus und Plünderung zu verhindern.

Niemand hat geglaubt, dass der Machtkampf mit dem Regime so schnell und schmerzlos entschieden wird. Leider haben zwei Menschen in den Unruhen das Leben verloren, rund einhundert Demonstranten sind verletzt worden. Doch für das, was früher auf dem Balkan geschehen ist, kann man sagen: Es war eine friedliche Revolution.