Freunde. Feinde. Ihresgleichen.

Er ist ein Kollege und guter Bekannter von allen, die jetzt über ihn aussagen oder ein Urteil sprechen sollen: Der Hamburger Richter Ronald Schill  ■ Von Elke Spanner

Zum ersten Mal in der Hamburgischen Justizgeschichte sitzt ein Richter in einem Strafprozess auf der Anklagebank, weil er im Dienst ein Verbrechen verübt haben soll: Ronald Schill, so sagt es die Anklage, hat als Amtsrichter Rechtsbeugung und Freiheitsberaubung begangen. Die erste Halbzeit im Verfahren vor der Großen Strafkammer drei des Landgerichts ist abgelaufen, die meisten ZeugInnen haben ausgesagt. Es hat sich gezeigt, dass dieser Prozess eine schwere Aufgabe für alle Beteiligten ist. Nicht nur, weil sie wissen, dass dem Ausgang des Verfahrens auch politische Bedeutung zukommen wird – immerhin hat der Angeklagte bereits öffentlich verkündet, Innensenator von Hamburg werden zu wollen, und die rechtspopulistische „Partei Rechtsstaatlicher Offensive“ gegründet“. Delikat ist auch, dass Ronald Schill ein guter Bekannter von allen ist, die jetzt über ihn aussagen oder ein Urteil sprechen sollen. Prozessentscheidend sind vor allem die Aussagen der KollegInnen, die ihn damals suchten, als seine beiden Gefangenen schon den zweiten Tag im Gefängnis auf ihre Entlassung warteten und Schill sich bei Gericht nicht blicken ließ. Und die RichterInnen und StaatsanwältInnen, mit denen er am dritten Tag in der Kantine zu Mittag aß. Die tun sich sichtlich schwer, vor Gericht offenzulegen, was in der „Privatatmosphäre der Kantine“, wie Schill es einmal bezeichnete, an Gedanken ausgetauscht wurde. Amtsrichter Niels Graue beispielsweise, der selbst schon Prozesszuschauer in Ordnungshaft gesteckt hatte, will sich nicht einmal daran erinnern, damals überhaupt mit Schill zu Mittag gegessen zu haben. Und Richterin Ulrike Weintraud erinnert sich zwar immerhin noch an die Kantinenrunde, aber dass sie dort ärgerlich auf Schill war und ihm vorwarf, den Rechtsschutz der Gefangenen zu unterlaufen, gibt nur eine damals beisitzende Staatsanwältin zu Protokoll. Weintraud will der Inhalt des Gespräches entfallen sein. Auch für die RichterInnen der Landgerichtskammer und die Staatsanwaltschaft ist es eine unbehagliche Situation. Unzählige Male haben sie Schill zuvor in der Gerichtskantine getroffen und auf dem Flur Smalltalk mit ihm gehalten, und jetzt sollen sie darüber befinden, ob ihr Kollege ein Verbrecher ist. Egal, wie sie entscheiden: Mit jedem Urteil machen sie sich Freunde und Feinde zugleich – auch im eigenen Haus. Dazu gehört Mut, so oder so. Nach einwöchiger Unterbrechung geht das Verfahren heute weiter. Die taz stellt die Prozessbeteiligten vor.

Der Angeklagte

Ronald Schill gibt sich siegesgewiss. Seine Überzeugung, dass der Prozess nur mit seinem Freispruch enden kann, trägt er wie eine Fahne vor sich her. Zwar wettert er darüber, dass man ihn politisch abstrafen und mundtot machen wolle, indem man ihn von der Richter- auf die Anklagebank verpflanze. Andererseits hat er dadurch eine Bühne, auf der er sich der Öffentlichkeit präsentieren kann, und in deren Licht sonnt er sich bekanntlich gern.

Der Zuschauerraum ist stets gefüllt mit politischen Anhängern, die den Rechtspopulisten zu ihrer Gallionsfigur erkoren haben, und Fernsehkameras sind auf den Gerichtsfluren postiert, extra für ihn. Vor denen kommentiert er ausführlich alles, was Zeugen im Gerichtssaal über ihn berichtet haben, während er drinnen zuhört und zur Anklage schweigt, die Hände stets auf dem Tisch wie zum Gebet gefaltet.

Doch er hält seine Linie nicht durch, den Prozess als bloße Inszenierung darzustellen, in der er den unschuldig Angeklagten auf dem steinigen Weg zur Gerechtigkeit spielt. Je länger das Verfahren andauert, desto häufiger verliert er die Fassung. Als der Staatsanwalt seinem Verteidiger einmal vorhält, immer noch nicht die angekündigten Entlastungszeugen benannt zu haben, keift Schill durch den Saal: „Wir brauchen keine Entlastungszeugen, weil es auch keine Belas-tungszeugen gibt.“ Und auch als am dritten Verhandlungstag Amtsgerichtspräsident Heiko Raabe im Zeugenstand sitzt und nicht – wie erwartet – Entlastendes zu Protokoll gibt, gehen Schill die Nerven durch. Er meldet sich zu Wort und geht den Präsidenten mit einer solchen Schärfe an, dass Richter Wolfgang Göhlich ihn schließlich stoppt: „Herr Schill, das geht zu weit.“

Der Verteidiger

Walter Wellinghausen ist für Schill eine hervorragende Wahl. Er ist in der SPD und damit erstmal unverdächtig, das Verfahren im Schill'schen Sinne politisieren zu wollen. Denn sein Mandant behauptet, allein aus politischen Gründen auf die Anklagebank gezerrt worden zu sein. Mit der Wahl seines Verteidigers vermittelt er, dass zumindest er das Verfahren rein juristisch zu führen gedenkt. Und Wellinghausen kennt den Vorsitzenden Richter Wolfgang Göhlich offensichtlich gut. Die beiden machen keinen Hehl aus ihrer Sympatie füreinander.

Wellinghausen ist es, der die Atmosphäre im Gericht bestimmt. Mit seinem weißen Vollbart hat er etwas Väterliches, und er strahlt die Ruhe und Zuversicht aus, die nur haben kann, wer in seinem Leben schon viele Erfahrungen gesammelt hat. Er lächelt stets zuvorkommend, selbst wenn er mit seinen Fragen unter die Gürtellinie zielt. Zwar ist er sich nicht zu schade, für seinen Mandanten auch schmutzige Wäsche zu waschen – am vorigen Prozesstag hat er Amtsgerichtspräsident Heiko Raabe offen eine Intrige gegen Schill unterstellt. Doch selbst dabei schmunzelt er sein Gegenüber wohlwollend an und lächelt immer wieder dem Richter zu, als wolle er sagen: „Nimms mir nicht übel, aber wir beide wissen doch, wie so was läuft.“

Der Richter

Wolfgang Göhlich scheint die Verhandlung als Sport anzusehen. Besonders gefällt ihm, wenn Walter Wellinghausen in den Ring steigt. Geht der in Position, um einen Zeugen zu befragen, scheint der Richter jedesmal von neuem Spaß an seinem Job zu finden. Dann grinst er erwartungsvoll wie ein Schuljunge, der jemanden bei etwas Verbotenem ertappt und hin- und hergerissen ist zwischen Faszination und der inneren Ermahnung, nüchtern zu bleiben.

Einmal aber lässt er Schill deutlich spüren, dass der nicht nur ein Richterkollege, sondern auch Angeklagter ist: Als Schill beginnt, das Verfahren zu politisieren und Amtsgerichtspräsident Raabe unterstellt, ihn „auf unlautere Art“ loswerden zu wollen. Da hat Schill die Rechnung ohne den Richter gemacht. Der stoppt die Befragung: „Es geht nicht um Verhaltensweisen des Zeugen“, belehrt er den Angeklagten. „Wir wollen über Ihr Verhalten befinden.“

Der Staatsanwalt

Ewald Brand glaubt an die Gerechtigkeit, und die zu verteidigen ist er angetreten. Dabei hat er es schwer. Er weiß, dass er den Kürzeren ziehen wird, sollte er den scharfen Ankläger geben – die Rolle, in der sich Staatsanwälte zumeist am besten gefallen. Denn in Saal 337 sitzen sich keine Gegner gegenüber, sondern Juristenkollegen, die gemeinsam ein Problem lösen wollen. Und Brand weiß, will er den Takt mitbestimmen, muss er auf die joviale Tonart einsteigen, in der der Vorsitzende Richter und der Verteidiger kommunizieren. Das fällt ihm schwer. Nicht, dass er das nicht könnte. Doch man merkt ihm an, dass er oft innerlich kocht, während er mit dezentem Witz auf Wellinghausen erwidert. Schärfe gesteht Brand sich nur zu, wenn Wellinghausen ihm eine Vorlage liefert.

Das tut der Verteidiger an jedem Sitzungstag mindestens einmal. Als er am zweiten Verhandlungstag beispielsweise Brand ein weiteres Mal unterstellt, Entlastendes zu verschweigen, platzt dem der Kragen: „Dass dies ein politischer Prozess sein soll, ist ein Hirngespinst, dass Sie sich selber schaffen“, sagt er zu Schill, und zu Wellinghausen: „Das damals von Schill verfasste Haftprotokoll ist unrichtig und manipuliert. Da verwundert es, dass die Verteidigung von der Staatsanwaltschaft erwartet: Schwamm drüber.“

Der Rechtsanwalt

Andreas Beuth hat den Prozess mit seiner Strafanzeige eingeleitet, doch jetzt wird er behandelt, als wäre er gar nicht da. Bevor Richter Göhlich einen Zeugen entlässt, versäumt er regelmäßig, auch Beuth Gelegenheit zur Befragung zu bieten. Der darf ohnehin nur im Gerichtssaal sitzen, weil er einen Adhäsionsantrag gestellt hat, also Schadensersatz für seine Mandanten verlangt, die drei Tage im Gefängnis sitzen mussten. Für die Aufklärung der Frage, ob Schill eine Rechtsbeugung und Freiheitsberaubung begangen hat, spielt Beuth nur eine untergeordnete Rolle, und das bekommt er deutlich zu spüren.

Am ersten Verhandlungstag beispielsweise hat die Kammer einen Zeugen bereits entlassen, nachdem alle Prozessbeteiligten auf dessen Vereidigung verzichtet hatten – alle außer Beuth, denn der wurde geflissentlich übersehen. Er schaltet unaufgefordert sein Mikrofon an: „Ich verzichte auch, und danke, ich hatte auch keine Fragen mehr.“