berliner synästhesie
: Vom Geruch und anderen Geschmacksempfindungen

Schmecken

Eigentlich war es eine schöne Nacht. Sechs, sieben Weizen, die entsprechende Laune, gute Gespräche, ein Konzert der Old-School-Indieband Dead Moon in Huxleys Neuer Welt. Hier aber musste Brinkmann irgendwann einen Aussetzer gehabt haben, denn er fand sich frühmorgens auf den Treppen im Eingangsbereich wieder, wo ihn freundliche Menschen anscheinend abgesetzt hatten. Als wenn nichts gewesen wäre, machte er sich auf den Weg nach Hause.

Am nächsten Tag kam ihn ein Freund besuchen. Als der sich eine Zigarette anzündete, merkte Brinkmann, dass etwas nicht stimmte: Er roch den Zigarettenrauch nicht, und er roch auch das wie üblich in großen Mengen aufgelegte, schwere Parfum seines Freundes nicht. Ein Griff an den Hinterkopf und eine kleine Beule dort bestätigten Brinkmann, dass er in Huxleys Neuer Welt auf den Hinterkopf gefallen sein musste und dabei sein Geruchssinn in Mitleidenschaft gezogen worden war.

Einige Tage später stellte Brinkmann fest, dass auch mit dem Essen etwas nicht stimmte. Vor allem Süßspeisen wollten ihm keine rechte Freude mehr machen und schmeckten eigenartig oder nach gar nichts, aber auch Fleisch oder Gemüse lösten nicht mehr den Wohlgenuss von einst aus.

Brinkmann hatte durch seinen Sturz nicht nur eine so genannte Anosmie erlitten, den Verlust seines Geruchssinns, der ihm schwer ankam, dem er aber in lockeren Momenten so manchen Vorteil abgewinnen konnte. Sondern auch eine Ageusie, eine Beeinträchtigung des Geschmacksempfindens, was Brinkmann, einem ausgewiesenen Feinschmecker, noch viel, viel schwerer zu schaffen machte. Da hatte mit dem Sturz also nicht nur die Zentrale für seinen Geruchsinn einen mitbekommen, sondern indirekt wirkte sich dieses Ereignis auch auf die oft auf Geruchswahrnehmungen basierende Geschmacksempfindung aus.

Andererseits war es genauso möglich, dass tatsächlich auch einige Geschmacksbahnen im zentralen Nervensystem von Brinkmann lädiert waren. Insbesondere die drei Hirnnerven Facialis, Glossopharyngeus und Vagus schienen nicht mehr vollständig ihre Aufgaben zu erfüllen. Diese drei Hirnnerven führen Geschmacksfasern mit sich, die die Rezeptoren auf der Zunge, die so genannten Geschmacksknospen, die sich an den Wänden der auch von außen sichtbaren Zungenpapillen befinden, mit den entsprechenden Informationen versorgen: Der Facialis versorgt an seinem Ende als Nervus lingualis die Geschmacksknospen der Papillae fungiformes auf den vorderen zwei Dritteln der Zunge, der Glossopharyngeus hingegen die Papillae vallatae im hinteren Drittel und der Vagus den Gaumen.

Die Geschmacksknospen sind es, die registrieren, ob etwas süß, sauer, bitter oder salzig ist, ihre Anzahl, Stärke und Eigenschaft ist ausschlaggebend für die Geschmackswahrnehmungen an den unterschiedlichsten Stellen der Zunge: An der Zungenspitze hauptsächlich süß, salzig an Zungenrand und Zungenspitze, sauer besonders an den Zungenränden und bitter am Zungengrund.

Brinkmann hatte keine Probleme mit Zitrusfrüchten, Hustensäften oder Kräuterschnäpsen, die sorgten für die bekannten Geschmackssensationen, umso mehr aber mit Schokolade oder einem Döner – vielleicht weil er es nicht riechen konnte, vielleicht weil die Geschmacksfasern des Facialis irgendwo am Hirnstamm einen Knacks bekommen hatten oder hinten in der Höhle des Hinterhirns, wo Materie und Geist sich treffen. Bei einem Arzt war Brinkmann, den Freunde gern auch als „Mann mit Geschmack“ bezeichnen, übrigens nie. Heute, ungefähr acht Jahre nach seinem Sturz, sagt er, dass er wieder alles normal schmecke und „zu siebzig, achtzig Prozent“ auch wieder riechen könne. GERRIT BARTELS