Nobelpreis für gutes Schreiben

Der kluge Dichter Robert Gernhardt als Lichtblick im deutschen Literaturdunkel

Am 21. September hält es der Zeit-Rezensent Konrad Heidkamp für mitteilenswert, dass er „Die Aschenbechergymnastik“ von Max Goldt beim Scheißen liest. Als Zeit-Autor drückt er die Sache selbstverständlich etwas anders aus: Das Buch, schreibt er, liege „am Toilettenfenster“, werde „also situationsgebunden gelesen“. „Situationsgebunden“: Hut ab vor soviel salopper Verklemmtheit – welche die Kehrseite des hochtrabenden deutschen Innerlichkeitstonfalls ist, der sonst gern genommen wird im Zeit-Feuilleton, diesem recht zuverlässigen Anzeiger dessen, was viertel- bis halbgebildete Deutsche für ihre Kultur halten.

Am 28. September schreiben allerlei deutschsprachige Schriftstellerinnen und Schriftsteller in der Zeit etwas zum extrem unoriginellen, zwanghaft deutschen Gähnthema „Zehn Jahre deutsche Einheit“. So unterschiedlich sie sich äußern, so unterschiedslos tun sie, was von ihnen verlangt wird: Sie sorgen sich um Deutschland (und, wenn sie Österreicher sind, um Österreich), sie identifizieren sich mit Deutschland, sie ringen die Hände um Deutschland, sie fühlen „nationale und europäische Verantwortung“, kurz: Sie empfehlen sich als Autoren größtmöglicher Langeweile, als Schöpfer schwerblütiger Zähigkeit. Günter de Bruyn schießt den Vogel ab als nationaler Kartoffelkopf und quakelt von der „Freiheit, die ich täglich preise“. Nur ungern möchte man ihm dabei zuhören.

Einer jedoch macht das öde Spiel nicht mit. Wo sie alle die inneren Werte nicht halten können und die – bevorzugt „kritisch“ sich spreizende – Vaterländerei mit ihnen durchgeht, bleibt Robert Gernhardt kühl bei den äußeren Werten. Anhand der Verkaufszahlen seiner gesammelten Gedichte rechnet er vor, was ihm die Einheit eingebracht hat: „Wir beschränkten uns auf ein Buch, die rote Ausgabe besagter Gedichte, auf einen Zeitraum, 1. 1. 1997 bis 1. 9. 2000, und auf sechs Bundesländer, drei so genannte alte und drei neue. Wir verglichen ein südwestliches und ein südöstliches Bundesland: In Baden-Württemberg wurden 2.757 Exemplare verkauft, in Sachsen- Anhalt waren es 29. Wir ließen zwei benachbarte Bundesländer zum Vergleich antreten: In Hessen griffen 3.280 Käufer nach dem Buch, in Thüringen waren es 14. Wir machten einen letzten Versuch mit zwei großflächigen Ländern: In Nordrhein-Westfalen fand das Werk 2.953 Liebhaber, in Mecklenburg-Vorpommern waren es zwei.“

Man halte das nicht für Koketterie. Als ich im Frühjahr 1990 für ein Jahr zur Titanic-Redaktion stieß, wo die Wiedervereinigung der Deutschen naturgemäß ein Thema war, hatte für das schwarz-rot-goldene, gröhlende Gewürge niemand etwas übrig als Hohn und Spott. Robert Gernhardt allerdings freute sich ganz pragmatisch auf 17 Millionen potentielle Käufer seiner Bücher – eine Haltung, die man, gemessen am verstandesarmen Pathos der meisten seiner Schriftstellerkollegen, als hoch zivilisiert loben muss.

Gernhardt wäre nicht Gernhardt, priese er nicht selbst die Gesamtauflage seiner gesammelten Gedichte als „nicht schlecht, für einen Gedichtband sogar sehr gut“. In der FAZ vom 5. Oktober geht er noch etwas weiter und schlägt als Nobelpreisträger einen deutschen Lyriker vor. „Die Preisrichter“, schreibt Gernhardt, „übersahen [. . .], und das mit großer Hartnäckigkeit, die Lyriker des Landes. Kein Rilke, kein Ringelnatz, kein Benn kam je zu Ehren, nun endlich, mit Peter Rühmkorf, erfährt die Welt, dass deutsch nicht nur mit Daimler, sondern auch mit Dichter alliteriert.“ Als Begründung gibt Gernhardt unter anderem an: „Weil der Lyriker etwas kann und sich etwas traut.“ Das gilt in hohem Maße für Gernhardt selbst. Zwar ist Peter Rühmkorf, der sich selbst als „grad zwischen Freund Hein und Freund Heine“ schwirrend stilisiert, kein schlechter Dichter, aber Gernhardt ist von den beiden doch der größere. Das weiß auch Gernhardt, und deshalb meint er mit seinem Vorschlag eben auch sich selbst.

Früher habe ich mich, gerade weil ich ihn so bewunderte, über die selbstloberischen Züge Robert Gernhardts geärgert und aufgeregt – heute erscheint mir Gernhardt durch diesen offenkundigen Mangel, durch diese Unvollkommenheit erst erträglich. Denn das wäre nicht auszuhalten: dass einer als Dichter alles könnte und auch noch ein makellos guter Mensch wäre. Und deshalb schließe ich mich Robert Gernhardts Vorschlag an: Ja, Robert Gernhardt soll den Nobelpreis für Literatur bekommen. Er wäre ein guter Preisträger: klug, charmant und liebenswürdig, kein peinlicher Patriot wie Grass und, speziell bei diesem Preis alles andere als eine Selbstverständlichkeit: Er kann richtig gut schreiben.

WIGLAF DROSTE