Das Geschlecht spielt eine Rolle

Bianca Müller ist keine gewöhnliche Polizistin. Vor acht Jahren ließ sie sich zur Frau operieren. Seitdem wird sie gemobbt, nicht befördert, denunziert. Nun macht die 46-jährige Berlinerin, die als Hermaphrodit zur Welt kam und ihr erstes Leben als Mann leben musste, ihre Geschichte öffentlich

„Sie hatte ein Horrorleben.Sie lebte immer in der Furcht, die wahre Identität könnte rauskommen.“

von BARBARA BOLLWAHN
DE PAEZ CASANOVA

Ein alltäglicher Name, Bianca Müller. Alltäglich ist sie aber nicht, die Geschichte, die sich hinter Bianca Müller, der Bundessprecherin der „Kritischen Polizistinnen und Polizisten“, verbirgt. Die Berliner Kriminalhauptkommissarin kam vor 46 Jahren mit weiblichen und männlichen Geschlechtsorganen zur Welt. Ein großer Kitzler oder ein kleiner Penis – für die Eltern eine „Unstimmigkeit“. Sie wollten einen Sohn. Deshalb ließen sie kurzerhand den Vaginalbereich zunähen und im Geburtsbuch als Geschlecht „männlich“ eintragen.

„Ich wurde durch Gesetz und Umwelt 38 Jahre lang vergewaltigt“, nennt das Bianca Müller heute. „Wie für viele der etwa 1.000 Intersexuellen, die pro Jahr in Deutschland geboren werden, war für mich das Schlimmste, dass mir niemand die Wahrheit sagte und ich ständig in Scham und Angst lebte, bis ich mit 42 Jahren erfuhr, dass ich seit Geburt eine Frau bin.“

Bis Bianca Müller zu dieser Erkenntnis gelangte, führte sie ein Doppelleben: Für ihre Umwelt war sie Sven (Name geändert) und nur für sich ganz allein eine Frau. Bereits im Alter von vier Jahren zog sie heimlich die Kleidung ihrer Mutter an. Während der Schulzeit kaufte sich Sven von seinem Taschengeld eigene Mädchenkleider und verkleidete sich, wenn die Eltern nicht zu Hause waren. Wurde er ertappt, setzte es Prügel von den Eltern. Die Großmutter vermutete „einen warmen Enkel“.

Er selbst schämte sich für seine „Perversität“ und versuchte das erste Mal im Alter von zehn Jahren, sich das Leben zu nehmen. Eines Tages entdeckte die Mutter sein Kleiderdepot und machte ihm in Gegenwart eines Schulkameraden eine Szene, so dass er am nächsten Tag in der Schule mit „Mädchen, Mädchen!“-Rufen empfangen wurde. In den Pausen wurde Jagd auf die „schwule Sau“ gemacht.

Als in der Pubertät Stimmbruch und Bartwuchs ausblieben, wurden ihm Hormone verordnet. Während sich die Eltern über die sprießenden Barthaare und die tiefe Stimme ihres „Sohnes“ freuten, litt dieser „immens“ darunter. Und unter den Nebenwirkungen: eine starke Akne und beginnender Haarausfall.

Hin- und hergerissen zwischen den eigenen Gefühlen und dem Druck, das zu sein, was die anderen erwarteten, verleugnete Sven Müller sein „Frausein“, sprach mit niemanden darüber und ergriff einen ausgesprochenen Männerberuf: Mit 22 Jahren ging er zur Kriminalpolizei. Beim Einstellungstest warf der Polizeiarzt einen flüchtigen Blick unter die Gürtellinie, und der Karriere stand nichts im Weg.

Sven Müller stürzte sich in Arbeit: Außendienst bei der Kripo, Aufstieg zum Kriminalhauptkommissar, Ausbilder, Schichtführung und Einsatzführer. Außerdem nahm er ein Medizinstudium auf. Mit beruflicher Anerkennung und gelegentlichen Machoallüren bewahrte er den Schein. Er wurde zum „Arbeitstier“, um weniger Zeit für seine „Abartigkeit“ zu haben. Dazu gehörten seine zwei Autos: Zur Arbeit fuhr er mit einem Opel, nach der Arbeit, als Frau, einen VW.

Der Preis, den Sven Müller für das offizielle Dasein als Mann zahlte, ging so weit, dass er sich die kleine Brust, die ihm gewachsen war, entfernen ließ. Nachdem er diesen „Makel“ jahrelang mit weiten Pullovern kaschiert hatte, fiel einem Kollegen an einem heißen Sommertag, an dem er ein T-Shirt trug, diese „Unstimmigkeit“ auf. Auf seine Frage, was das denn sei, erwiderte Sven Müller mit einer Gegenfrage: „Vielleicht bin ich eine Frau?“ Die Antwort des Kollegen: „Dann fliegen Sie hochkant raus.“ Weil Sven Müller seine Karriere nicht aufs Spiel setzen wollte, ließ er 1988 eine subkutane Mastektomie, eine Brustamputation, vornehmen.

Ein Jahr später starb sein Vater. Kurz vor seinem Tod überraschte und verwirrte er seinen Sohn, indem er zu ihm sagte: „Wir haben eine Tochter.“ Heute ist Bianca Müller überzeugt, dass ihr Vater sein Gewissen erleichtern wollte. Ihre Mutter hingegen stritt das ab. Es dauerte weitere drei Jahre, bis Sven Müller, hochgradig selbstmordgefährdet, die Kraft fand, „den Kampf gegen die Umwelt aufzunehmen“. Er entschloss sich zu einem Dasein als Frau mit allen Konsequenzen. „Zum Umstieg in die für mich bis dahin nur gefühlsmäßig richtige, weibliche Rolle“, sagt sie heute.

Die Kraft dazu musste Sven Müller ganz allein finden. Seine Mutter, zu der er nur sporadisch Kontakt pflegte, versuchte, den vermeintlichen Sohn von der Operation abzubringen. „Lass das doch, du bist doch ein Junge“, sagte sie. Doch der Sohn, der keiner war, ließ sich nicht umstimmen. „Ich hielt es nicht mehr aus.“

Eingeweiht in die Operation 1992 in London, bei der der zugenähte Vaginalbereich wieder geöffnet wurde, waren nur der Berliner Polizeipräsident Hagen Saberschinsky und zwei weitere Vorgesetzte. Sven Müller meldete sich für längere Zeit krank. Die offizielle Begründung war eine Krankheit, wie sie männlicher nicht sein kann: Hodenkrebs.

Ein Jahr später wurde mit Brustimplantaten, Barthaarentfernungen, Operationen an Kehlkopf und Stimmbändern und Hormonbehandlungen aus Sven Müller eine Frau. Eine neue Geburtsurkunde, Führerschein und Personalausweis wiesen sie als Bianca Müller aus. Und die Ärztekammer bescheinigte ihr: „Sehr geehrte Frau Müller, Sie wurden als Hermaphrodit geboren. Das Geschlecht wurde von Ihren Eltern als männlich gewählt.“ Zudem ergab eine Computertomografie, dass sich hinter dem jahrelang zugenähten Vaginalbereich Eierstöcke, Eileiter und Gebärmutter befanden.

Nach der langen Zeit des Versteckspielens betont Bianca Müller nach den geschlechtswiederherstellenden Operationen ihre Weiblichkeit mit Pumps, eleganter Kleidung und Make-up. Nie wieder Schlabberpullover, Hosen und flache Schuhe. Der Currywurst essende Machopolizist war endgültig Vergangenheit.

Ende gut, alles gut? Weit gefehlt. „Einige hielten die Schnauze nicht“, sagt Bianca Müller. Schon vor ihrem Dienstantritt an der neuen Dienststelle wussten die Kollegen, dass die neue Hauptkommissarin früher ein Hauptkommissar war. Es folgten obszöne Anrufe – „Ich muss mit dir ins Bett gehen, um meinen Kollegen sagen zu können, ob du jetzt wirklich eine Frau bist“ –, Beschwerdebriefe an die Polizeiführung wegen „Störung des Betriebsfriedens“ und Vergleiche mit der Tierwelt: Es wurde kolportiert, dass dank der Chirurgie eines Tages aus Gorillas Menschen und aus Goldfischen Delfine werden könnten. Bianca Müller weiß zudem von Äußerungen aus der Polizeiführung, dass kein Bürger mitkriegen dürfe, dass „so was“ bei der Polizei arbeite.

Ihre Mutter gab ein halbes Jahr nach der Operation in England zu, dass sie von der Entbindung an gewusst habe, dass sie eine Tochter geboren hatte. Bianca Müller war zusammen mit einigen Freunden zu Kaffee und Kuchen bei ihrer Mutter erschienen. „Aber wir wollten einen Sohn“, war ihr einziger Kommentar. Als Bianca Müller später einige Sachen aus der elterlichen Wohnung holen wollte, verweigerte ihr die Mutter den Zutritt zu ihrem Zimmer mit den Worten „Eine Bianca Müller steht nicht im Mietvertrag. Du hast hier nichts zu suchen.“ Seitdem ist die Mutter für Bianca Müller gestorben.

Halt fand sie nur bei ihrem Freund, einem Polizeibeamten, den sie über eine Zeitungsanzeige kennen gelernt hatte. Doch die Beziehung endete nach nur anderthalb Jahren. Ihr Freund starb an einem Herzinfarkt – in ihren Armen im Krankenhaus. An einem 17. Mai, ihrem Geburtstag. „Er war der erste Mensch, den ich in meinem Leben kennen gelernt hatte, der mich so liebte, wie ich war.“ Nach diesem Verlust ging es Bianca Müller so dreckig, dass eine Blutuntersuchung gemacht wurde. Eine Ultraschalluntersuchung ergab, dass sie in der achten Woche schwanger und der Embryo bereits abgestorben war.

„Ich muss mit dir ins Bett gehen, um meinen Kollegen sagen zu können, ob du jetzt wirklich eine Frau bist.“

Während Bianca Müller diese Schicksalsschläge verarbeiten musste, nahmen die Anfeindungen ihrer Kollegen kein Ende. Einige bezeichneten ihr Aussehen als „nuttig“, andere „ekelten“ sich vor ihr, und ihr Schichtleiter gab ihr zu verstehen, dass sie bei Null anzufangen habe, wie ein Azubi. Die erfahrene Hauptkommissarin musste weit unter ihrer Qualifikation arbeiten und sich von Kollegen auf der Straße „herunterputzen“ lassen. „Man wollte mich zerbrechen“, so Bianca Müller. Ihr Körper reagierte auf diese Art der Ablehnung mit Depressionen und einer mehrwöchigen Krankheit.

Schließlich wurde ihr die Dienstwaffe zeitweise abgenommen, ein Psychiater sollte sie auf ihre Diensttauglichkeit untersuchen. Obwohl ihr bescheinigt wurde, vollkommen normal und einsatzfähig zu sein und trotz nachgewiesener Qualifikation und Eignung, blieb es bei der Herunterstufung. Ihr Antrag auf Rückversetzung in ihre alte Direktion wird ihr bis heute ebenso verweigert wie die Beförderung zur Schichtleiterin. Seit Jahren sind beim Verwaltungsgericht mehrere Verfahren anhängig. „Die lange Dauer grenzt an Rechtsverweigerung“, urteilt ihr Anwalt, Hans-Joachim Ehrig. „Die Polizei sollte froh sein, so eine couragierte und qualifizierte Polizistin in ihren Reihen zu haben.“ Bianca Müller hat auch gegen den Polizeipräsidenten geklagt. Vor dem Verfassungsgerichtshof wegen Verstosses gegen die Menschenrechte.

Viele Journalisten kennen seit Jahren die Geschichte von Bianca Müller und ihren Kampf für Mobbingopfer bei der Polizei, den sie seit ihrem eigenen Mobbing führt. Doch auf ihren Wunsch hin schrieben sie nichts über ihre Wandlung vom Mann zur Frau. Wurde über sie in ihrer Funktion als Sprecherin des CDU-Polizei-Arbeitskreises und später als Sprecherin der „Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizistinnen und Polizisten“ oder über ihre Aussagen vor der Mobbingkommission berichtet, die 1997 in Berlin nach dem Selbstmord einer Polizistin eingerichtet wurde, war immer nur verschwiemelt die Rede von einer Brustamputation und einem anschließenden Brustaufbau.

„Ich wollte nicht für den Rest meines Lebens gebrandmarkt herumlaufen“, so ihre Begründung. Doch nachdem sie verstärkt in Interviews auf ihre angebliche „Transsexualität“ angesprochen wurde, tritt sie jetzt die Flucht nach vorn an. „Nur weil ich mich äußerlich geändert habe, bin ich charakterlich und in der Arbeit nicht degeneriert“, sagt sie. „Ich werde nach acht Jahren intensiv diffamiert, dagegen muss ich mich jetzt mit der Wahrheit wehren.“

Vor wenigen Tagen erschien im Verlag Hoffmann und Campe das Buch „Tod einer Polizistin“. Darin schildert Dieter Schenk, 63, jahrzehntelang Kriminalbeamter, zuletzt Kriminaldirektor beim Bundeskriminalamt, neben mehreren Selbstmordfällen infolge von Mobbing bei der Polizei auch den „Fall“ Bianca Müller – anonymisiert. Im Nachwort wird die Anonymisierung jedoch aufgehoben. „Ich will meinen Gegnern den Wind aus den Segeln nehmen“, erklärt Bianca Müller.

Ihre wahre Geschichte offenzulegen, sei „ihre Waffe“, sagt der Autor Schenk. „Sie hatte ein Horrorleben. Sie lebte immer in der Furcht, die wahre Identität könnte rauskommen.“ Besonders schlimm findet Schenk, wie sie von ihren Vorgesetzten im Stich gelassen wurde. „Der Berliner Polizeipräsident ebnete ihr erst den Weg zu den Operationen und stattete sie mit einer Legende aus. Doch als es Probleme gab, ließ er sie fallen und schlug sich auf die Seite der Mehrheit der Kollegen.“ Bis heute habe sich nichts daran geändert. Und: „Es ist nicht zu erwarten, dass Hilfe geboten wird.“