Das Problem heißt Ruuuudi

Nach dem triumphalen 1:0-Sieg gegen England wird die Ratlosigkeit immer größer: Kommt Daum doch, muss Völler bleiben? Entscheidet der Staatsanwalt? Der Boulevard? Fanvolkes Stimme?

aus Wembley BERND MÜLLENDER

Kaum wen ließ das große Match ungerührt: Auch Mr. Cool nicht, Oliver Bierhoff, der zunächst noch sein Heil in Höflichkeitsbekundungen gesucht hatte: „Gut gearbeitet“ habe das Team, und er sei „froh, dabei gewesen zu sein“. Später, der Bus wartete schon, stellte sich der deutsche Kapitän mit Marco Bode und den beiden Gattinnen in Positur und machte im leergefegten Stadioninnern ein Klickklack-Erinnerungsfoto. Im Hintergrund brauste derweil noch einmal exstatischer Torjubel auf: Ein paar Ordner hatten den Ball ins Tor gedroschen, zum vermeintlich endgültig letzten Treffer im berühmtesten Stadion der Welt.

„Wann immer ich den Ball hatte“, erklärte Englands Jungstar Michael Owen nachher, „war ich sofort umzingelt von einem Haufen weiß gekleideter Giganten, die nach meinen Haxen schnappten.“ Eine passende Analyse zum Spiel, dessen Bewertung einhellig ausfiel: Ein perfektes Abwehrbollwerk (Deutschland ohne Libero!), der Kampf leidenschaftlicher, als ihn die Briten kennen, dazu viele Feinheiten nach vorn über den alle überragenden Didi Hamann und den lange quicken Mehmet Scholl. Der uninspirierte, kreativitätsresistente Gegner half kräftig mit: In ihren Clubs der starsgespickten Premier League sind viele der Beckhams gut, aber nur, weil sie da an der Seite internationaler Klasseleute auftrumpfen können. Unter sich kommt nichts heraus. Und beim Tor half Torwart Seaman kräftig mit, als er bei Hamanns Freistoß aus 35,7 Yards Entfernung (so Sky TV) wie eine crossing barrier (Bahnschranke) niederglitt.

Dennoch: Ein überaus beeindruckender Auftritt der Deutschen, der nach dem EM-Debakel so unvorstellbar schien wie Rechtsverkehr in Britannien.

Umso auffälliger, wie sehr alle um Contenance bemüht waren. Kaum ein Wort von Stolz, Genugtuung, gar Euphorie. Zu fragil und unübersichtlich ist derzeit, mitten in der Halbwelt- und Drogendebatte um den designierten Bundestrainer Christoph Daum, die Lage in Fußballdeutschland – eine tolle Leistung und ein historischer Sieg machen die Sache nur noch schwieriger.

Nie war es so wertvoll, keine eigene Meinung zu haben; und selten waren labberige Statements wichtiger denn je. Denn jedes unbedachte Wort hätte als Meinungsäußerung in der Causa Daum/Hoeneß/Völler gewertet werden können. Und so lächelten alle Spieler erst mal süffisant auf diesbezügliche Fragen, wie es denn nun weitergehe, um dann in der Sache nichts zu sagen. Zum Meinungsführer der Meinungslosen machte sich Oliver Kahn: Man habe zwar „ein bisschen Geschichte geschrieben“, und mit dem Gespann Völler/Skibbe zu arbeiten, sei, verglichen mit Ribbeck angenehm („Man weiß jetzt, was sich die Verantwortlichen vorstellen“), aber zur Zukunft gebe es nichts mitzuteilen: „Ich bin nicht für Personalpolitik zuständig.“

Aber wer? Hoeneß, der Geiferer? Daum, der vermeintliche Kokser? Der Staatsanwaltschaft? Die Unterwelt, die in Köln und Aachen nach Recherchen der Süddeutschen Zeitung besonders intensiv mit Enthüllungsangeboten die Verstrickungen des Leverkusener Trainers ins Milieu belegen will?

Das Problem ist nicht nur der unappetitliche Streit Daum/Hoeneß. Das größere ist Rudi Völler: Alle mögen ihn, offenbar macht er nicht nur in den Augen von Leverkusens Daum-Schüler Michael Ballck gute Arbeit („Rudi, der Sympathieträger, hat immensen Druck von der Mannschaft genommen“), und Bild geht schon in die Vollen: „Rudi Riese lässt England schrumpfen.“ Wie wird man den Mann wieder los: Fußballdeutschland wird mit jedem Sieg ratloser. Udo Lattek meint schon: Daum habe „kaum noch eine Chance“.

Niemand hält es für überheblich oder anmaßend, wenn Völler sagt: „In den 77 Jahren Wembley hat wohl selten hier ein Team so aufgetrumpft wie wir. Besser geht es kaum.“ Dennoch definiert er sich nach wie vor nur als Zwischenlösung. Völler sagt, er „hoffe weiter“, dass Daum „den Job übernimmt im Juli“. Aber er hat den Satz nicht mehr ergänzt wie noch vergangene Woche: „Aus tiefstem Herzen.“

Bleibt diese Idee: Daum ersetzt den zurückgetretenen Kevin Keegan (siehe links) als Teamchef Englands. Was die Drogenlust angeht, ist England ein idealer Ort, auch wenn der falsche Stoff konsumiert wird. Wer London je an einem Freitagabend erlebte, wie sich Zigtausende zeitgleich und klassenübergreifend in die Pubs stürzen, empfindet die Druckbetankung eines Formel-1-Wagen nur als lahmes Benzingetröpfel. Und einen Hoene ß gibt es in London auch nicht.

England: Seaman - Neville (46. Dyer), Keown, Adams (74. Le Saux ) - Beckham (79. Parlour), Southgate, Barmby - Scholes - Cole, OwenDeutschland: Kahn - Rehmer, Nowotny, Linke - Deisler, Ramelow, Hamann, Ballack, Bode (87. Ziege) - Scholl, BierhoffZuschauer: 76.377; Tor: Hamann (14.)