HABEN KOŠTUNICA UND MILOŠEVIĆ EINEN KOMPROMISS GESCHLOSSEN?
: Halbe Revolution

Die Euphorie ist groß. Die Ereignisse in Belgrad, der Sturz von Slobodan Miloševiac und die Vereidigung des neuen Präsidenten Vojislav Koštunica scheinen eine Zeitenwende auf dem Balkan einzuleiten. Endlich ist der Despot gefallen, endlich kann eine demokratische und friedliche Zukunft auch in Serbien erwartet werden. So schallt es aus den Medien.

Doch gerade wegen dieser Euphorie sind Fragezeichen angebracht. Um in Serbien einen demokratischen Prozess zu initiieren, der auch für die Bürger und die Nachbarn Serbiens akzeptabel ist, sind noch viele Hindernisse zu überwinden.

Auffallend ist, wie reibungslos die „Revolution“ vonstatten ging. Dass CNN die Erlaubnis bekam, den Sturm auf das Parlament weltweit zu übertragen, ist ungewöhnlich, wenn man die Pressepolitik des alten Regimes bedenkt. Dass die Polizei sich zurückgezogen hat, dass das Fernsehgebäude an die Demonstranten übergeben wurde, könnte noch mit der Vernunft des Polizeiapparates erklärt werden. Erstaunlich ist jedoch, dass im Fernsehen nach Koštunica kein anderer als Slobodan Milošević das Wort ergreifen durfte. Und dass der Mann sich immer noch in Belgrad aufhält.

All dies deutet darauf hin, dass schon, bevor die Straße sprach, hinter den Kulissen die Weichen für den Machtwechsel gestellt worden sind. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn damit Blutvergießen vermieden werden konnte. Doch die Frage ist, welchen Preis die bisherige Opposition bei diesem Handel bezahlen musste. Deuten Koštunicas Worte, er werde nicht mit dem Tribunal in Den Haag zusammenarbeiten, kein Serbe werde dorthin ausgeliefert, nicht in diese Richtung? „Keine Rache“ hieß es schon während der Demonstrationen. Aus Kroatien weiß man, dass es auch dort vor den Wahlen im Januar zwischen der damaligen Opposition und der HDZ-Regierung zu Absprachen gekommen ist. Wäre nicht Stipe Mesić Präsident, wäre der Reichtum vieler Würdenträger des Tudjman-Regimes wohl nicht angetastet worden, wären die Akten über Kriegsverbrechen nicht an die Öffentlichkeit gelangt. „Keine Rache“ bedeutet eben keine radikale Abrechnung mit der Vergangenheit. Dies berührt den demokratischen Prozess im Kern. Wie lange wird es dauern, bis über die Schuld des Regimes und der Gesellschaft in Bezug auf die Kriege in Kroatien, Bosnien und Herzegowina wie auch im Kosovo gesprochen werden kann? Die serbische Ideologie, die großserbischen Ziele, die Aggressivität ihrer Durchsetzung werden von großen Teilen der Oppositionsbewegung nicht hinterfragt. Im Gegenteil, die Rechtsradikalen marschierten mit.

Nein, in Serbien ist der Durchbruch zu einem tief greifenden Wandel bisher noch nicht erfolgt. Und der neue Präsident hat auch nicht erkennen lassen, dass er über den Ist-Zustand des vorherrschenden Bewusstseins hinausgehen will. Da in der serbischen Ideologie die Serben immer Opfer der Geschichte sind, fällt es leicht, die eigenen Verbrechen zu verdrängen. Der Patriot auf dem Präsidentenstuhl hat in Bezug auf Kosovo, Montenegro und die Repbulika Srpska noch keine positiven Signale ausgesandt. Im Gegenteil, er hat verschiedentlich zu erkennen gegeben, dass er hinter den nationalen Zielen steht. Und die bedeuten in den Augen der Nachbarn nach wie vor, die ethnisch gesäuberten Gebiete Bosniens und Herzegowinas an Serbien anzuschließen, die Rechte Montenegros einzuschränken, das Kosovo voll unter serbische Kontrolle zu stellen.

Die internationale Gemeinschaft wird weiter wachsam sein müssen. Zwar ist es richtig, das ohnehin unsinnig gewordene Embargo aufzuheben. Truppen abzuziehen wäre aber falsch. Was das Kosovo und Bosnien betrifft, sind gerade wegen Koštunica Konflikte nicht auszuschließen. Die Albaner des Kosovo werden sogar wieder in den Krieg ziehen, sollten sie unter serbische Kontrolle zurückgezwungen werden. Die Bosniaken in Bosnien und Herzegowina werden es nicht hinnehmen, wenn erneut territoriale Forderungen – nun aus „demokratischem“ Mund – geäußert werden. Auch die Tatsache, dass trotz demokratischer Freiheiten die Hälfte der Bevölkerung des serbischen Teilstaates in Bosnien und Herzegowina extremen nationalistischen Parteien die Treue hält, deutet darauf hin. Wenn das Oppositionsbündnis in Serbien bei den nächsten Wahlen auseinander fällt, wird sich in Belgrad zeigen, dass die Tage der Extremisten keineswegs gezählt sind. ERICH RATHFELDER