Von Spindelgeschöpfen und Kohlebatzen

■ In Bremen trifft sich derzeit die Crème de la Crème der Bildhauer des letzten Jahrhunderts: Ernst, Giacometti, Laurens, Richier, Kounellis, Chillida

Zum 1. Oktober kehrte Martina Rudloff dem Gerhard-Marcks-Haus den Rücken. Vielleicht hat sie deshalb bei ihrer Abschiedsausstellung auch den Rücken bedacht, in Form der relativ berühmten vier weiblichen Rückenakte von Henri Matisse, die sich sukzessive Richtung Abstraktion verflüchtigen, so wie sich auch die 60-jährige Museums-Chefin verflüchtigt.

Satte elf Seiten hat sie im Ausstellungskatalog diesen Bronzereliefs gewidmet, was nur abgefeimten, vergleichslüsternen KunstwissenschaftlerInnen gelingen kann. Dummerweise aber hat das Museum, in dessen Besitz die Matisse-Rücken entzücken, die mündliche Verleihzusage kürzestfristig zurückgezogen, und zwar wegen der einschlägigen Bedenklichkeiten hyperskrupulöser Restauratoren. Sie rückten die Rücken nicht heraus. Jetzt residiert die monumentale Stierfamilie von Max Ernst (bei der es sich in Wahrheit um Steinböcke – „Capricorne“ – handelt) ganz einsam und auratisch im großen, zentralen Saal des Museums.

Beigesellt ist ein historisches Foto, das Ehepaar Ernst mit ihrer wächterartigen Capricorne-Skulptur ebenfalls allein in ihrer Einsiedelei vor den mächtigen Wüstenbergen Nevadas zeigt. Da passt doch die Leere des Raums. Missgeschick oder Zufall regieren mitunter weise. Das wusste auch Alberto Giacometti. Der meinte, dass sich das Arrangement seiner Plastik „Der Wald“ purem Zufall verdanke. Zufällig standen sieben typische ausgehungerte Giacometti-Hänftlinge auf dem Boden in einer Art und Weise herum, wie er sie bewusst nicht besser hätte komponieren können. Diese Gruppe von isolierten Einzelkämpfern bildet (zusammen mit zwei weiteren Giacomettiplastiken) eine von sechs bildhauerischen Positionen, die Martina Rudloff für das 20. Jahrhundert als prägend betrachtet. Zwei davon sind in Deutschland eher unterrepräsentiert, Henri Laurens, der nur im Hannoveraner Sprengel-Museum breiter vertreten ist und die geniale Germain Richier, die man am besten in Südfrankreich entdeckt.

Fast wie die Personen in Giacomettis Wald stehen diese Positionen nebeneinander, ohne zusammenschnürenden roten Faden, ohne terrorisierendes Konzept. Und das kann man fast schon wieder als Konzept betrachten. Denn das Marcks-Haus bewies in der Vergangenheit durchaus jede Menge Freude an sogenannten Themenausstellungen. Man denke an die Ausstellungen, die unter den Motti Turmbau zu Babel, Hoffnung oder – in jüngster Zeit – Mythos Wasser firmierten.

Manche der Positionen liegen nah beieinander wie die pestbeuligen Spindelgeschöpfe von Giacometti und Germain Richier. Andere sind diametral entgegengesetzt wie Laurens' üppige Frauen, die mit ihren Körperverdrehungen dem Raum sogar noch vierte und fünfte Dimensionen zu entlocken scheinen, und Iannis Kounellis konzeptionelle flache Wandarbeit. Ein spannendes Gespinst aus Analogien und Differenzen stellt sich ganz automatisch her.

Henri Laurens: das sind Henri Moores üppige Frauen, allerdings nicht in statisch-ruhender Erdenschwere, sondern in verflüssigter Form, einmal sogar von kubistischer Körperparzellierung beeinflusst. Was man nicht sieht: Es handelt sich bei ihnen nicht nur um den Ausdruck von Gefühlszuständen – Ruhe, Versenkung –, sondern sie verweisen auf Zeitgeschichte: „Abschied“ entstand, nachdem Freunde Laurens im 2. Weltkrieg gefallen waren, „Erwachen“ erzählt von der Hoffnung auf den sich abzeichnenden Frieden.

Germaine Richier: Sie verkehrte in den Kreisen der französischen Surrealisten. Das nimmt Christa Lichtenstern in ihrem Katalogbeitrag zum Anlass, nach Analogien zwischen ihren fünf „Schachfiguren“ und den von Rimbaud bis Breton geschätzten Tarot-Karten in echter kunstwissenschaftlicher Entschlüsselungsmanier zu forschen. Und sie wurde fündig. Sowohl den gehörnten Kopf der „Dame“ als auch den abstrakten Gitterkopf des „Königs“ gibt es auch im Tarot. Deshalb deutet Lichtenstern die verspielt-lustig-gruseligen Horrorgeschöpfe als die Stationen für einen Initiationsweg zu irgendeiner Erleuchtungsstufe. Als müsse ein Künstler bei Zitieren gewisser Formelemente gleich das ganze ideologische Überbeuerle mitschleppen. Dabei haben Richiers herrlich fremdartige Gespenster so gar keinen esoterischen Stallgeruch.

Von Eduardo Chillida sind unter anderem Keramikbilder zu sehen, die die typischen Chillida-Balkenverdrehungen ins Zweidimensionale überführen. Und auch die Arbeit des anderen Abstrakten, Iannis Kounellis, arbeitet sich ab an der Grenze von Skulptur und Flachware. Vor allem erkennen wir: Kohleklumpen sind schillernd und geheimnisvoll wie Diamanten. Ein bisschen arg nobel, weihevoll, unantastbar kommt das 20. Jahrhundert, kaum ist es seit ein paar Monaten hinüber, in dieser Auswahl und vor allem in dieser Präsentation allerdings schon daher. bk

Im Gerhard-Marcks-Haus bis zum 14. Januar zu sehen. Infos: 32 72 20 (di-so 10-18 Uhr)