Skihütte deiner Alpträume

Wahre Lokale (40): Im „Sünder“ in Münster zählen ganz klar die inneren Werte

Wer die von außen so unscheinbare Gaststätte am Rande des Hafenviertels betritt, wird das behagliche Gefühl nicht mehr los, endlich zu Hause angekommen zu sein. Winzig, dunkel und zugestellt mit unglaublichem Gerümpel entfaltet sich dort, ganz wie zu Hause, ein innenarchitektonisches Geschmacksinferno, das in verständigen Menschen brennenden Durst entfacht, unangenehme Personen jedoch wirksam abschreckt – in Münsters glatt gebügelter Studenten- und Beamtengastronomie ein echter Glücks- und Sonderfall.

Dessen Existenz ist freilich kaum bekannt. In die Leerer Straße, eine Wohnstraße im toten Winkel zwischen Bahnhof und angesagter Hafengegend, verirren sich schon Ortskundige nur selten. Auch der kauzige Name, für den sich selbst Stammgäste ein wenig genieren, mag zum geringen Bekanntheitsgrad der Wirtschaft beitragen.

Da überdies draußen noch das Kneipenschild des vor drei Jahren untergegangenen „Students Pub Live“ prangt, sucht die handverlesene Kundschaft gerne in der griffigen Formel Zuflucht, man sei hier eben „bei Horst“. Zu Recht. Horst nämlich, ein ehemaliger Schafhirte und Fahrradreparateur, ist ein Wirt, wie er sein soll: eigensinnig, unaufdringlich und im Hintergrund stets präsent. Das Schafehüten sei halt eine prima Lehrzeit gewesen, sagt er. Hat man erst einmal hineingefunden zu Horst, umfängt einen augenblicklich eine immense Gemütlichkeit; übrigens lassen die beengten Platzverhältnisse auch keine andere Wahl. Auf ca. 25 Quadratmetern bieten vier mit Teppichen belegte Tische etwa fünfzehn Gästen genügend Bewegungsfreiheit für Trunk und wohltemperierte Gespräche – rhetorische Exzesse mit gewaltigem Armgefuchtel müssen aber entfallen. An der Theke hätten zwar bestimmt noch fünf Gäste Platz, doch sitzen dort immer schon welche. Zufall ist es natürlich nicht, der diese Leute fortwährend zu Horst treibt, sondern erstens Durst und zweitens Horst und drittens die sagenhaft entspannte Atmosphäre, die sich einem Sammelsurium von „Einrichtungsgegenständen“ verdankt, wie man es sonst nur in alten Wochenendhäusern findet.

Die Wände sind z. B. mit Bambussichtschutz aus dem Gartencenter verkleidet, die ausgebleichten Kalenderbilder zeigen dazu unpassende Stillleben und Alpenlandschaften, die wiederum prächtig disharmonieren mit Makrameezöpfen, einem ausgestopften Habicht, einem chinesischen Wachsschirm, einem lächelnden Messingdelphin, verstaubtem Weihnachtsschmuck und vielen weiteren schlampig arrangierten Details, die von einer Discokugel mit bewegtem Licht betupft werden.

Dass alle Kabel selbstredend überirdisch verlegt sind und Horsts private Camping-Utensilien großzügig unter den Bänken lagern, macht dabei gerade das gewisse Etwas aus, den kleinen Unterschied zwischen gewolltem „Trash“ und echtem Sperrmüll, der ein Unterschied ums Ganze ist! Nicht umsonst sprach eine geschätzte Bekannte in diesem Zusammenhang von der „Skihütte deiner Alpträume“. Aber auch hier bleibt die Zeit nicht stehen. Vor allem die Musikauswahl verblüfft durch einen bisweilen schneidigen Eklektizismus, der zwar meist zwischen Punk und Hippierock changiert, aber auch vor Drum & Bass nicht Halt macht. Anders als in anderen Musikkneipen versteht man dabei sogar jedes Wort der Mitzecher – sofern sich diese noch artikulieren können. Das Bier ist nämlich kalt, schmackhaft und mit fünf Mark pro halbem Liter so unerreicht preiswert, dass man auch schon mal eins mehr nimmt.

In solchen Momenten überrascht bzw. reanimiert Horst seine Gäste oftmals mit Schälchen voller Erdnüsse, die eigenhändig aufzubrechen sind, mit einer großen Plexiglaskugel voller Erdnussflips, die von Tisch zu Tisch gereicht werden muss, und zur Weihnachtszeit sogar mit leckeren Schoko-Weihnachtsmann-Lutschern! Solch vorbildlich kundenorientierte Gesinnung führt dazu, dass man hier gern lange verweilt. Da aber manch einer, der sich beim Verlassen des Lokals seiner wiedergewonnenen Bewegungsfreiheit freute, dieselbe lauthals mit Verantwortungslosigkeit verwechselt hatte, formierte sich im vergangenen Jahr die Anwohnerschaft und das Ordnungsamt drohte mit Lizenzentzug! Gott sei Dank konnte Horst mit einer groß angelegten Unterschriftenaktion („Wir sind das Volk!“) die Wogen glätten; man ist hier eben durchweg unprätentiös und egalitär gestimmt. Jüngst, nach seinem Gastspiel in der nahe gelegenen Halle Münsterland, wurde übrigens Bob Dylan von örtlichen Roadies in den „Sünder“ geschleppt. Horst aber verweigert in der für ihn typischen Bescheidenheit alle Details: „Da gibt’s nichts zu erzählen. Für mich war das ’n ganz normaler Gast. Nach dem ersten Schreck hab ich versucht, den ganz normal zu bedienen.“ Natürlich mit Erdnüssen.

MARK-STEFAN TIETZE

Hinweis:Ein Wirt, wie er sein soll: eigensinnig, unaufdringlich und im Hintergrund stets präsent