Pädagogik ohne Pädagogen

Zwei Jahre nach dem Umzug von Schöneberg nach Hellersdorf ist die Alice-Salomon-Fachhochschule im ostdeutschen Sozialraum angekommen, doch dort kann man sich keine Sozialpädagogen leisten

von MARINA MAI

„In Hellersdorf landen unsere Ideen nicht nur in irgendwelchen Schubfächern.“ Christine Labonté-Roset, Rektorin der Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik „Alice Salomon“, ermutigt ihre Erstsemestler, sich in den Bezirk einzubringen, der die Fachhochschule seit nunmehr zwei Jahren beheimatet. Ideen für die Gestaltung des Hochschulvorplatzes wären ebenso gefragt wie Vorschläge für die Sozialarbeit in Hellersdorf.

Für 150 Studienanfänger, die aus 600 Bewerbern ausgewählt wurden, beginnt jetzt das erste Semester. Doch Berührungsängste mit dem Osten oder einem Plattenbaubezirk haben die neuen Studenten nicht. Die Hannoveranerin Heike Bergert etwa, hat sich vor ihrer Wahl für eine Ausbildungsstätte die Hochschule genau angesehen, Vorlesungsverzeichnisse verglichen. Die Plattenbauten rund um das Gebäude haben sie nicht davon abschrecken können, hier zu studieren, im Gegenteil: „Ich habe mich bewusst entschieden, in den Osten zu gehen, dorthin, wo die sozialen Probleme auf der Straße liegen.“ Wie viele Erstsemester ist Heike Bergert Mitte zwanzig und hat mehrere Jahre Berufserfahrung im sozialen Bereich hinter sich. Zwei Drittel der Studierenden sind Frauen.

Zwei Jahre nach ihrem Umzug von Schöneberg nach Hellersdorf ist die Fachhochschule „Alice Salomon“, die sich einst so heftig gegen das „Exil“ gewehrt hatte, im ostdeutschen Sozialraum angekommen. Knapp die Hälfte der Studierenden stammt nach Asta-Schätzungen heute aus dem Osten. Hochschullehrer aus dem Osten konnten wegen eines Einstellungsstopps kaum eingestellt werden, Doch der ostdeutsche Sozialraum ist dennoch Gegenstand von Forschungen. Themen sind etwa Gewaltprävention und Gewaltkriminalität in Brandenburg. Doch während die Fachhochschule sich für den Osten geöffnet hat, bietet dieser den Studenten kaum eine Chance auf einen Arbeitsplatz.

Zwischen 70 und 90 Prozent der Sozialarbeit in den Ländern Sachsen und Sachsen-Anhalt wird nach einer Studie der Fachhochschule Magdeburg durch nichtausgebildete ABM-Kräfte geleistet. Für den Berliner Raum fehlen zwar solche Erhebungen, aber Steffen Kroeger vom Asta schätzt den Anteil ähnlich hoch ein. Geldmangel, den ostdeutsche Kommunen mangels Alternativen auf die freien Träger abwälzen müssen, sind dafür ebenso Ursachen wie die weit verbreitete Auffassung, Sozialarbeit könne jeder machen.

Die Studienanfängerin Grit Kersten, die aus dem brandenburgischen Eberswalde stammt, kann ein Lied davon singen. Zuerst ehrenamtlich, dann als nichtausgebildete ABM-Kraft hat sie in einem Club für linke Jugendliche gearbeitet, bevor sie zum Studium ging. Dass sie nach dem Studium als Sozialpädagogin in Eberswalde eine Chance hat, glaubt sie nicht. „Die Träger arbeiten doch lieber mit ABM-Kräften, die sind billiger.“ Warum sie dennoch hier studiert? Grit Kersten zuckt die Achsen. „Ich will mit Menschen arbeiten und dazu professionell ausgebildet sein. Ich muss ja nicht in Berlin oder Brandenburg arbeiten.“ Wer hier studiert, tut das kaum der Karriere wegen, ist eher „Überzeugungstäter“.

Wie Katrin Paul aus dem 6. Semester. Die Enddreißigerin, die in der DDR eine Erzieherinnenausbildung gemacht hat, ist für das Studium aus dem öffentlichen Dienst „beurlaubt“ und muss vom Land Berlin zurückgenommen werden. Ob es mit ihrer Traumstelle klappt, Katrin Paul möchte Sozialberaterin in einem Jugendamt werden, ist ungewiss. „Durch die Bezirksfusion werden da gerade Stellen gestrichen. Vielleicht arbeite ich ja wieder als Erzieherin.“ Das Studium bereut sie dennoch nicht. „Die ganzen Rechtsfächer habe ich ja in der DDR nicht gehabt.“

Die Studentin aus dem 6. Semester gehört dem ersten Jahrgang an, der sein Studium nicht mehr mit einem bezahlten so genannten „Anerkennungsjahr“ abschließt, das vielen Studierenden direkt den Weg in eine Anstellung ebnete. Das hat das Land Berlin aus Spargründen gestrichen. Stattdessen sind zwei unbezahlte Praktikumssemester in das Studium integriert. Manch eine Studentin mit Kindern muss ihre Praktikumssemester strecken, weil unbezahlte Vollzeitarbeit und Kinderbetreuung nicht unter einen Hut zu kriegen sind. Die Hochschule würde zwar, so die Rektorin, an die Praktikumsträger appellieren, den Studenten ihre Praktika zu vergüten, aber im Berliner Raum tue das kaum jemand. In Bayern und Baden-Württemberg sei dies hingegen selbstverständlich.

So manch ein sozialer Träger hätte, so die Erfahrungen von Grit Kersten und Heike Bergert, eine halbe Erzieherstelle gestrichen zugunsten eines Dauerpraktikantenplatzes. „Wenn in einem Jahr die ersten Sozialarbeiter ohne Anerkennungsjahr fertig werden, landen sie direkt in der Sozialhilfe“, prophezeit Katrin Paul resigniert. Bisher gibt es nach dem bezahlten Jahr wenigstens einen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe.

So pessimistisch sieht die Rektorin die Perspektive ihrer Studenten nicht, wenn auch sie eingesteht, dass der Arbeitsmarkt im Berliner Raum weit ungünstiger ist als in Südwestdeutschland, wo es für qualifizierte Sozialpädagogen Chancen gibt. Aber etwa die Arbeit mit straffälligen Jugendlichen, die Jugendgerichtshilfe, betreutes Jugendwohnen oder Gerontologie wären Arbeitsfelder, in die in den letzten Jahren Absolventen auch in Berlin und Brandenburg eine Anstellung gefunden hätten. „Sorge macht uns vor allem die Entwicklung im öffentlichen Dienst der Ostbezirke, überzählige Kitaerzieherinnen auf Sozialarbeiterstellen zu setzen, ohne sie zu qualifizieren.“ Die Fachhochschule hätte der Innenverwaltung berufsbegleitende Studien für diese Erzieherinnen angeboten, aber bisher will das Land Berlin dafür kein Geld ausgeben.

Auf die Tendenz, Sozialarbeit auf nichtausgebildete Kräfte zu schieben, reagiert die Fachhochschule mit Spezialisierungen. In Masterstudiengängen werden etwa internationale Konfliktmanager ausgebildet. Gut vier Prozent der Studierenden gehen nach dem Studium ins Ausland, etwa auf den Balkan.