Für ein paar Stimmen mehr

Die Wahl zum Direktorium der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers ist entschieden. In Europa führt Deutschland, der Kandidat aus Afrika gewann mit 67 Stimmen

von CHRISTIAN AHLERT

Andy Müller-Maguhn hat es geschafft. Der Sprecher des Chaos Computer Clubs wird in der Leitung der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (Icann) als gewählter Direktor den Kontinent Europa vertreten. Mit 5.948 von 11.309 abgegebenen Online-Stimmen der europäischen „At-Large-Members“ der Icann hatte er schon in der ersten Auszählung des komplizierten Wahlverfahrens die erforderliche Mehrheit errungen. Auf den Plätzen 2 und 3 folgen mit deutlichem Abstand die beiden anderen deutschen Kandidaten für den Europa-Sitz, die Berliner Politikwissenschaftlerin Jeanette Hofmann (2.295 Stimmen) und Telekom-Manager Winfried Schüller (990 Stimmen).

Damit hat sich zumindest für Europa bestätigt, was zu erwarten war: Die von Mitgliedern selbst nominierten Kandidaten hatten die besten Chancen. Die vom Nominierungskomitee der Icann vorgeschlagenen Kandidaten – immerhin fünf von sieben – waren von Anfang an als Repräsentanten der Industrie disqualifiziert worden. Ob damit die Nutzergemeinde in ganz Europa ihren Mehrheitswillen durchgesetzt hat, muss dennoch bezweifelt werden. Zu ungleich ist die Verteilung der „At-Large“-Mitglieder – sowohl in Europa als auch in der Welt. Allein Deutschland stellt den größten Anteil an Internet-Nutzern, die sich bei Icann registrieren ließen und dann auch noch an der Wahl teilgenommen haben. Und Europa war mit über 48 Prozent wiederum die Region mit der höchsten Wahlbeteiligung.

Die Gründe für diese relative Vormacht der Deutschen sind leicht zu erkennen. Denn auch im Cyberspace sind reine Graswurzel-Bewegungen im Nachteil gegenüber den Mobilisierungsstrategien großer Verlage und Medienunternehmen. Spiegel-Online ging schon im Frühjahr mit seiner Initiative „i can“ auf den Markt der Aufmerksamkeit, die Online-Redaktionen der Zeit und der Süddeutschen schlossen sich an. Mit hochkarätig besetzten Konferenzen unter dem Titel „Democratic Internet“ mobilisierte außerdem die Bertelsmann-Stiftung für die Wahlen der Icann. Das Ergebnis ist unübersehbar: Über 50 Prozent der europäischen Icann-Mitglieder kommen aus Deutschland.

Der Rest der Welt

Auch in Nordamerika machte ein von den Nutzern nachnominierter Kandidat das Rennen. Anders als in Europa haben die amerikanischen Wähler jedoch keine Scheu gehabt, ihrerseits einen Vertreter der IT-Industrie ins Icann-Direktorium zu entsenden – die Icann selbst hatte den Akademiker Lessig aus Harvard vorgeschlagen. Aber mit 1.738 Stimmen gewann Karl Auerbach die Wahl knapp vor Barbara Simons (1.581 Stimmen). Auerbach ist Mitarbeiter bei Cisco-Systems, dem unangefochtenen absoluten Marktführer für Internet-Hardware.

In den drei anderen Regionen, Afrika, Asien/Australien und Lateinamerika, folgten die Wähler gleich den Vorschlägen des Icann-Nominierungskomitees. Der Japaner Masanobu Katoh kommt von Fujitsu und erhielt 13.913 von 17.745 abgegebenen Stimmen, der Brasilianer Ivan Moura Campos brauchte nur 946 von 1.402 abgegebenen Stimmen, um in seinem Wahlkontinent Lateinamerika zu gewinnen. Auf Nii Quaynor schließlich, den Leiter der Regierungsstelle für die Länder-Domain von Ghana, entfielen 67 von 130 Stimmen. Damit vertritt Quayor den Kontinent Afrika, den großen weißen Fleck auf der Landkarte des Internet.

Teure Rechtsanwälte

Wie legitim ist dieses Ergebnis, das so offensichtlich nicht repräsentativ für die Nutzer des Internet ist? Jeanette Hofmann spricht von „Demokratie nach Art der Betriebswirtschaftler“. Die Politologin bemängelt, dass die Wahl im Haushalt der Icann noch nicht einmal ein eigenes Budget hatte. Weit mehr Geld als für die Demokratie gab die Icann für ihre Rechtsanwälte aus.

Auch andere Missstände hätten jede normale Wahl ihrer Legitimationsgrundlage beraubt. Selbst kurz vor dem Wahltermin waren nur wenige Webseiten der Kandidaten verfügbar, und oft nur in englischer Sprache – für viele ein deutliches Zeichen amerikanischer Arroganz.

Nur die Technik entsprach dann nicht ganz diesem Prestige: Während der Online-Registrierungsphase für die allein als Wahlbürger anerkannten „At-Large-Members“ war der dafür ausersehene Server über zwei Wochen lang nicht erreichbar. Niemand weiß deshalb, wie viele Internet-Nutzer nur deswegen keine Icann-Netizens geworden sind. Dann hatte die Mitgliedernominierung zuerst den wenig charmanten Namen „self-nomination“ und war in Europa auf zwei Kandidaten beschränkt: Offenbar wurden die europäischen Icannier als so unberechenbar angesehen, dass sie an die Hand genommen werden sollten. Bislang sind keine genauen Statistiken über Wahlbeteiligung und Verteilung auf die Regionen und Länder verfügbar – wie auch jede plausible, statistisch abgesicherte Erklärung fehlt, warum über die Hälfte der registrierten Mitglieder ihre Mitgliedschaft bis heute nicht aktiviert hat. Was sind die Gründe? Desinteresse, Betrug, technische Probleme? Vermutlich eine Mischung aus allem.

Virtuelles Parlament?

Auch die Wahl selbst verlief nicht ohne Probleme: Während der ersten beiden Tage konnte kaum jemand wählen. Diese technischen Probleme wurden diesmal rasch gelöst. Doch das Wahlkomitee fand offenbar keine Zeit, sein Abstimmungsverfahren zu erläutern, das zwar durchaus sinnvoll war, aber doch eine sehr differenzierte Entscheidung vom Wählenden verlangte.

Mehr für die Zukunft versprach der digitale Wahlkampf im „Question and Answer“-Forum. Fragen der Mitglieder und Antworten der Kandidaten waren umgehend im Web nachzulesen und erzeugten damit einen gewissen Druck auf andere Kandidaten, ebenfalls zu reagieren.

Ermutigend sind auch die eher inoffiziellen Aktivitäten der Icann-Community, die zunehmend versucht, sich gegen die bürokratische Gängelung durch das Direktorium zu wehren. So hat der (deutsche) „Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft“ (www.fitug.de) eine europäische Mailingliste gegründet, die über die Wahl hinaus weitergeführt wird. Die Teilnehmer wollen eine eigene Verfassung für ihr Gremium formulieren und ein „At-Large-Council“ einrichten, das den Icann-Mitgliedern als virtuelles Parlament dienen soll. Die offizielle Icann ist damit weder eine Weltregierung für das Internet noch eine demokratische Organisation. Transparenter kann das seltsame Gremium trotzdem werden, jedenfalls dann, wenn die gewählten Direktoren andere Beratungs- und Diskussionsmethoden einführen als die bisher unter der selbst ernannten Netzverwaltung üblichen Rituale.

christian_ahlert@harvard.edu