Der Zweck heiligt die Mittel

So problemlos wie von den demokratischen Kräften erwartet gestaltet sich die Machtübernahme in Serbien nicht

aus Belgrad ANDREJ IVANJI

In Serbien würden „Unruhen, Gewalt und Gesetzlosigkeit“ herrschen, die Sicherheit und das Eigentum der Bürger seien „bedroht“, verkündete die Sozialistische Partei Serbiens (SPS) unter dem Vorsitz von Slobodan Milošević. Genau davor habe die SPS die Bürger Serbiens gewarnt, meinten einige Altkader hämisch: dass nämlich die Demokratische Opposition Serbiens (DOS) den Auftrag von der Nato erhalten hätte, ein Chaos in Serbien auszulösen und so eine Zerstückelung und Okkupation des Landes zu ermöglichen. Unter solchen Bedingungen würde die SPS die Gespräche mit den DOS-Führern einstellen.

Außerdem sei das Volk auf die Straßen gegangen, damit der Wahlsieg von Vojislav Koštunica anerkannt werde. Dies sei nun mit der Vereidigung Koštunicas zum jugoslawischen Präsidenten geschehen. Was DOS aber jetzt mache, sei „schlichte Räuberei“.

Erst einmal Präsident, hatte Koštunica gehofft, im Rahmen des staatlichen Systems und mit legalen Methoden die Macht in Serbien friedlich übernehmen zu können. Daraus wird wohl nichts. Die alte Nomenklatur weigert sich, die jüngsten Veränderungen zu akzeptieren, abzutreten und mit den Anführern des Volksaufstandes zu kooperieren. Serbische Oppositionsführer befürchten, dass Slobodan Milošević und seine Gefolgschaft immer noch die Hoffnung hegen, wenn die anarchistischen Zustände andauern, durch eine Hintertür wieder an die Macht zu kommen.

„Milošević ist politisch sehr aktiv geworden in den vergangenen Tagen. Er will die Konstituierung der jugoslawischen Bundes- und der serbischen Übergangsregierung und die Ausschreibung vorgezogener Parlamentswahlen in Serbien verhindern“, erklärte Zarko Korac, einer der DOS-Chefs. Milošević sei bereit, das „gefährliche Abenteuer“ einer Machtübernahme zu wagen. Sollte er nicht endgültig aufgeben, würde DOS die Bürger erneut zu Massenprotesten aufrufen, um das „Begonnene zu Ende zu bringen“.

Für die DOS ist die komplette Machtübernahme ein Wettlauf mit der Zeit. Die höchste Priorität hat die Konstituierung der jugoslawischen Bundesregierung, damit die angekündigten Finanzhilfen des Westens durch legale Kanäle ins Land kommen können. Die DOS ist aber auf eine Koalition mit der „Sozialistischen Volkspartei“ (SNP) aus der Teilrepublik Montenegro angewiesen, dem ehemaligen Verbündeten von Milošević. Der natürliche Koalitionspartner aus Montenegro, der prowestlich orientierte Präsident Milo Djukanović, hat die „verfassungswidrigen“ Bundeswahlen boykottiert und keine Abgeordneten im Bundesparlament.

Daher wird Djukanović eine künftige Bundesregierung genauso wenig anerkennen, wie er Vojislav Koštunica als den Präsidenten Jugoslawiens anerkennt, der für ihn nur der „Führer des demokratischen Serbiens“ ist. Eine neue föderale Regierung ist aber die Voraussetzung dafür, um die alten Machtstrukturen in Serbien aufzubrechen und den Weg für Wahlen zum Parlament, das die Gefolgschaft von Milošević dominiert, frei zu machen.

Kaum hatte DOS vorgezogene serbische Parlamentswahlen für den 17. Dezember angekündigt, als Resultat von Verhandlungen aller relevanten politischen Kräfte in Serbien, da meldeten sich schon Vertreter des Milošević-Regimes, um dies zu dementieren. DOS hatte vorgeschlagen, dass sich alle parlamentarischen Parteien in Serbien auf eine Übergangsregierung bis zu vorzeitigen Wahlen einigen – also die SPS, die Jugoslawische Linke unter dem Vorsitz von Milošević’ Gattin Mira Marković, die ultranationalistische Serbische Radikale Partei von Vojislav Šešelj und die Serbische Erneuerungsbewegung SPO. „Es handelt sich um eine technische Regierung, die sich um vitale staatliche Institutionen kümmern und die Bedingungen für faire und demokratische Wahlen im Dezember ermöglichen soll“, erklärte einer der DOS-Führer, Zoran Djindjić. Bei der Zusammenstellung der Übergangsregierung würde das vorhandene Kräfteverhältnis im serbischen Parlament berücksichtigt werden, aber auch die Tatsache, dass DOS derzeit die „führende politische Kraft“ in Serbien sei. DOS würde auf das Amt des serbischen Innenministers bestehen, denn im Moment stehe die Polizei unter keiner amtlichen Kontrolle.

Das Amt des Bundespräsidenten, das Vojislav Koštunica besetzt, ist zurzeit die einzige staatliche Institution, die in Serbien von allen Parteien anerkannt wird. In seinem Namen übernimmt der DOS-Krisenstab eine Institution nach der anderen, was SPO-Chef Vuk Drašković als einen „anarchistischen Zustand“ und Šešelj als einen „Putsch“ bezeichnete.

In nur fünf Tagen hat DOS unter anderem die völlige Kontrolle über die Nationalbank, die Bundeszolldirektion und das staatliche Fernsehen übernommen. Die Universität befreit sich selbst. Dekane werden gefeuert, und die von Milošević entlassenen kommen zurück.

Womit DOS allerdings nicht gerechnet hat, ist, dass Gruppen wie Arbeiterräte und Gewerkschaftsgruppen in verschiedenen Unternehmen auf der Gemeindeebene unkontrolliert die Macht an sich reißen und mit der alten Nomenklatur abrechnen wollen. Als einen Zustand der „demokratischen Revolution“ bezeichnete DOS diesen Vorgang, eine „vorübergehende Arbeiterselbstverwaltung“. Nur auf diese Weise könne die gerade errungene Demokratie verteidigt werden.

Die hastigen Versuche, die ganze Macht an sich zu reißen, begründet DOS damit, dass die Wahlen am 24. September als ein Referendum gegen Milošević und sein Regime betrachtet werden müssten, somit das Volk DOS beauftragt habe, die Demokratisierung in Serbien und in Jugoslawien durchzuführen.

Doch außer einem neuen Gefühl von Freiheit ist in Serbien recht wenig von einer Demokratie zu sehen. Das undemokratische Land kann anscheinend nur mit undemokratischen Mitteln demokratisiert werden. Der Marsch durch die Institutionen wird jedenfalls lang und mühselig werden.