zwischen den rillen
: Radiohead pixeln sich an Pink Floyd heran

Acid unterm Mikroskop

Manche Platten funken das erste Mal, da man sie hört. Kaum aber konzentriert man sich darauf, hat sich der Reiz auch schon verflüchtigt oder, schlimmer noch, wird zuhörends schal. „Kid A“, das neue Album von Radiohead, braucht fünf bis fünfzehn Anläufe, bevor ein sehr gewisser Reiz sich überhaupt erst einstellt: der Zauber.

Was sicher auch „OK Computer“ zu schulden ist, dessen explosive Wut und schwelgerische Schönheit einen langen Schatten auf seinen Nachfolger werfen konnte – drei Jahre hat sich die Band daher Zeit gelassen, um gegen Hype und Hypothek dieses stürmischen Meisterwerks anzuschreiben. Drei Jahre in verschiedenen Studios auf verschiedenen Kontinenten, wo aus über 50 Skizzen Songtaugliches destilliert wurde. Drei Jahre, in denen Sänger Thom Yorke des Singens überdrüssig und ein Freund des avantgardistischen Elektro-Labels „Warp“ wurde.

Drei Jahre auch, in denen Jonny Greenwood seine Gitarre weglegen und sich mit dem Ondes Martenot vertraut machen konnte, einer geisterhaft wimmernden Spielart des Theremin. Kein Instrument, auf dem sich ein weiteres „Creep“ komponieren ließe, geschweige denn ein „Paranoid Android“ – diese spröde „Bohemian Rhapsody“ für den durchschnittlichen, sprich depressiven Twentysomething eines informationsgesättigten Zeitalters. Ideale Musik zum Auf-dem-Bett-liegen-und-traurig-Sein, wie böse Zungen meinten (wer melodieselige Hymnen wie „Karma Police“ vermisst, ist inzwischen mit den skandinavischen Sphärikern von Sigur Rós weit besser bedient). Andere Zungen fanden für Radioheads überkonfessionelle Synthese aus Aggression und Harmonie den durchaus schmeichelnden Begriff „Punk Floyd“.

„Punk“ hat zu „Kid A“ keinen Zutritt, und zum „Floyd“ gesellt sich ein wahres Kaleidoskop an Koordinaten aus dem weiten Feld des Pop: „Treefingers“ klingt mit seinen wabernden Klangschwaden wie eine Fingerübung von Brian Eno, „Motion Picture Soundtrack“ erinnert mit kratzenden Störgeräuschen und Yorkes klarer Stimme an die amerikanischen Indierocker Grandaddy, „Ideotheque“ hat seine organischen Beats von Boards Of Canada abgeschaut.

Müßige Vergleiche, weil auch damit „Kid A“ nicht zu fassen ist: Um ein vollendetes, endgültiges Rockalbum wie „OK Computer“ vergessen zu machen, haben Radiohead keine bestimmte Richtung eingeschlagen, sondern alle Richtungen gleichzeitig – und kommen trotzdem an. Dass dieser halsbrecherische Weg gangbar ist, hat wiederum ein DJ Shadow vorgemacht, dessen Musik aus Collagen sich zusammensetzt wie ein Bild aus Pixeln. Und wie solche Bilder erst durch den Abstand des Zuschauers sichtbar werden, enthüllt sich das eigentliche Songwriting auf „Kid A“ als Wille zur Form, der selbst mikroskopische Details mit einer Besessenheit pitcht, loopt, schichtet und verschachtelt, die ihresgleichen sucht – und vielleicht wirklich bei Pink Floyd landet, deren komplettes Frühwerk bis zu „Atom Heart Mother“ in einem einzigen Song zusammengezogen scheint („The National Anthem“).

Der Albumtitel soll, so war zu lesen, den geklonten und genetisch dechiffrierten Menschen bezeichnen, das „Kid A“. Man hört es, wenn man’s hören will, im Titeltrack sogar jämmerlich schreien. Derlei Exegese verursacht zwar Sodbrennen, entspricht aber den Ambitionen der Band. „Ambition makes you look pretty ugly“, hieß es noch auf „OK Computer“. „Kid A“ beweist auf recht eindrucksvolle Weise das Gegenteil.

ARNO FRANK

Radiohead: „Kid A“ (Capitol/EMI)