Gesucht: Demokratie

Die EU konferiert in Biarritz: Sie muss sich reformieren. Die großen politischen Debatten werden nicht geführt – dafür der Krümmungswinkel der Banane bestimmt

Wahrscheinlich wird sich erst etwas bewegen, wenn die EU-Wahlen noch drastischer boykottiert werden

Spätestens seit der Ölpreiskrise ist klar: Die Gewerkschaften haben begriffen, dass sich im einheitlichen Euro-Währungsraum nur noch gemeinsam Interessenpolitik machen lässt. Das gesamte Fuhrgewerbe leidet gleichermaßen unter dem ungünstigen Dollarkurs – und so unterschieden sich ihre Forderungen zwar in der Sprache, in der sie gebrüllt wurden, nicht aber im Inhalt.

Was die Vertretung kollektiver Interessen angeht, könnten Jospin, Schröder und ihre Kollegen von jedem europäischen Gewerkschaftsdachverband eine Menge lernen. Doch stattdessen pochen die Chefs der Nationalstaaten so hartnäckig auf ihre Eigenständigkeit, als sei der Euro ein Druckfehler im Geschichtsbuch. Keinesfalls wollen sie die Konsequenzen ziehen, die sie angeblich beabsichtigt hatten, als sie sich 1992 auf die Einheitswährung verständigten. Damals lautete das offizielle Kalkül der in Maastricht versammelten Staatschefs: Dem gemeinsamen Markt werde automatisch die gemeinschaftliche Politik folgen. Das klang ziemlich nach Marx: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Vielleicht wurde es deshalb nicht so ernst genommen.

Spätestens unter französischer Ratspräsidentschaft wird deutlich, dass die Grande Nation, die sich als Motor der europäischen Einigung betrachtet, nicht daran denkt, nationale Souveränität abzutreten. Als der französische Transportminister Jean-Claude Gayssot vor knapp vier Wochen den Verkehrsministerrat zur außerordentlichen Sitzung zusammentrommelte, hätte man gern durchs Schlüsselloch geschaut. Seine Kollegen folgten der Einladung ungern, fürchteten sie doch, man könnte sie zu Mineralösteuersenkungen drängen. Aber es kam viel besser: Gayssot teilte mit, Frankreich habe soeben seine Mineralölsteuer im Alleingang um 15 Prozent gesenkt. Teilnehmer berichten, die Gesichtszüge einiger Minister seien ganz undiplomatisch entgleist.

Während jedes Nothilfepaket für Spediteure in Brüssel als wettbewerbsrelevante Staatsbeihilfe genehmigt werden muss, können die Nationalregierungen bei ihrer Mineralösteuer machen, was sie wollen – solange sie eine Mindeststeuer nicht unterschreiten. Das ist absurd – und den Bürgern nicht zu vermitteln. Die Öffentlichkeit hat den Eindruck, Brüssel regiere ins Leben jedes Einzelnen hinein und bestimme inzwischen sogar den Krümmungswinkel der Banane, während gleichzeitig in den großen politischen Fragen Stillstand herrscht.

Die Kompetenzverteilung zwischen Nationalstaaten und EU-Institutionen ist unausgegoren; entsprechend unklar ist bei Rat, Parlament und Kommission, wer wofür zuständig ist: Nach einem Amtsjahr hat endlich auch die EU-Kommission unter Romano Prodi aufbegehrt. Im Mai gestand Außenkommissar Chris Patten intern ein, seine Möglichkeiten überschätzt zu haben. Tatsächlich hatte er als Gouverneur von Hongkong weitaus mehr Handlungsspielraum als in Brüssel: Was die Außenminister nicht national entscheiden, klären sie im Europäischen Rat oder in Absprache mit der Nato; nach außen lassen sie sich vom Hohen Repräsentanten Javier Solana vertreten. Patten bleibt es allenfalls überlassen, sein Häkchen unter ein EU-Entwicklungshilfeprojekt zu machen, das niemals realisiert wird, weil der Kommission die Projektbetreuer fehlen.

Prodi hat das Problem in seiner Rede vor dem EU-Parlament am 3. Oktober deutlich angesprochen: Die Entscheidungen verlassen zunehmend den Kompetenzbereich der nationalen Parlamente, kommen aber im öffentlich kontrollierbaren Bereich europäischer Politik nicht an. Vielmehr bleiben sie auf der intergouvernementalen Ebene hängen – womit die Regierungschefs prima leben. Kein Wunder, dass ihnen trotz der schleppenden EU-Reform keine Ungeduld anzumerken ist.

Prodis Vorschlag, mehr Macht auf die Kommission zu verlagern, ist aus seiner Sicht verständlich. Geholfen wäre Europa nicht. Denn auch die EU-Kommission ist eine undemokratische Institution. Wer Kommissionspräsident wird, kungeln die Regierungen hinter verschlossenen Türen aus. Die Kommissare werden nicht nach ihren Fähigkeiten für die jeweiligen Ressorts ausgewählt, sondern reisen auf dem Ticket der Mitgliedsstaaten nach Brüssel. Sollte ein Kommissionschef starke Vorbehalte gegen ein Mitglied seiner Mannschaft haben, bräuchte er gute Nerven: Dann müsste nämlich das ganze nach Nationalinteressen austarierte Personalpaket neu verhandelt werden.

Bleibt also nur das Europaparlament, gestützt von einer kläglichen Wahlbeteiligung, als Keimzelle demokratischer Willensbildung? Uneingeschränktes Lob hat in den vergangenen Monaten nur eine EU-Institution kassiert, die sich nach erfolgreicher Arbeit vor zwei Wochen aufgelöst hat: der Grundrechte-Konvent. Er war aus nationalen Parlamentariern, Europaabgeordneten und Regierungsvertretern zusammengesetzt; unter Leitung von Roman Herzog legte er einen Verfassungsentwurf für Europa vor, der allseits sehr positiv aufgenommen wurde.

Das Geheimnis scheint die Mischung zu sein. Würde man sie auf eine EU-Reform übertragen, käme eine EU-Regierung heraus – von den Mitgliedsstaaten vorgeschlagen und vom EU-Parlament gewählt –, die von einer starken zweiten Kammer aus nationalen Parlamentariern kontrolliert würde. Ein demokratisches und funktionstüchtiges Modell, auf das sich der Rat niemals freiwillig verständigen wird. Denn mit den kleinen Geschäften hinter verschlossenen Türen wäre es dann vorbei.

Die Chefs der Nationalstaaten tun so, als sei der Euro ein Druckfehler im Geschichtsbuch

Wahrscheinlich wird nur Bewegung in die EU-Debatte kommen, wenn die Bürger die Europawahlen noch drastischer boykottieren. Katalytisch könnte auch wirken, wenn ein Bundeskanzler Haider den Austritt aus der EU erklären würde. Oder die Dänen gehen den Weg aus der Union weiter und nehmen Schweden, vielleicht sogar Großbritannien mit. Vorzuziehen, aber unwahrscheinlich ist die systematische Variante, das Demokratiedefizit zu beheben: Der Europäische Rat in Nizza zeigt Einsicht und beauftragt den bereits bewährten Konvent damit, eine verbindliche europäische Verfassung auszuarbeiten, die sich nicht nur auf den nun vorliegenden Grundrechtskatalog beschränkt.

Vielmehr werden Rechte und Pflichten der neuen Kammern, Ernennungsprozeduren und Wahlrhythmen detailliert festgeschrieben. Gleichzeitig werden die Kompetenzen der politischen Ebenen verbindlich nach Kriterien geregelt, die Zweifelsfälle auf ein Minimum reduzieren. Brüssel sollte nur entscheiden, was es wirklich besser kann – zum Beispiel die Außenpolitik und Fragen, die den einheitlichen Rechtsraum betreffen. Alles andere geht in die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten zurück. Versteht sich von selbst, dass diese Verfassung in allen EU-Ländern per Referendum legitimiert werden muss. Wer nicht mitmacht, kann an die Wirtschaftsgemeinschaft assoziiert bleiben.

Kämen die Regierungschefs zur Vernunft – der Gipfel von Nizza könnte als Geburtsstunde Europas in die Geschichte eingehen. DANIELA WEINGÄRTNER