Der französische Chinese

aus Peking GEORG BLUME
aus Paris DOROTHEA HAHN

Als der japanische Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe Anfang dieses Monats ausgiebig Peking besuchte, wurde er bei jedem seiner zahlreichen öffentlichen Auftritte gefragt: „Hat China einen Literaturnobelpreis verdient?“ Und jedesmal gab Oe lange Antworten, die daran keinen Zweifel ließen. Nun also hat China seinen Schriftstellerpreis. Oder doch nicht?

Gao Xingjian, der sechzigjährige Essayist, Übersetzer und Dramaturg, der gestern in Stockholm den ersten Literaturnobelpreis des neuen Jahrhunderts zugesprochen bekam, lebt seit dreizehn Jahren in Paris und hat inzwischen die französische Staatsangehörigkeit angenommen. Im Jahr 1983 wurde der Schriftsteller, der vor allem Theaterstücke schreibt, in Peking für sein Drama „Die Busstation“ verurteilt. 1987 – noch vor dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz – verließ er China.

In seinem Heimatland ist er heute ein Unbekannter. Sein Drama „Das andere Ufer“ wurde hier zuletzt 1986 aufgeführt.

Damit umgeht die Nobelpreisjury bei der Preisvergabe den Zorn der in Peking regierenden Kommunisten. Die bliesen einst in alle Propagandahörner, als Ende der Achtzigerjahre der Dalai Lama den Friedensnobelpreis erntete. Doch das wird diesmal nicht nötig sein. Schon wiederholt wurden Auslandschinesen amerikanischer Staatsbürgerschaft für ihre wissenschaftlichen Leistungen mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. In China wurden diese Preise zuweilen beflissentlich ignoriert oder wohlwollend zur Kenntnis genommen. Aber man identifizierte sich nicht mit ihnen.

Das wird auch im Fall Gaos nicht anders sein. „Ich bin überrascht und enttäuscht“, sagt Yang Kungman, Chefredakteur der anspruchsvollen literarischen Monatszeitung Chinesische Schriftsteller. Er wirft dem Nobelpreiskomitee Beliebigkeit und fehlende Ernsthaftigkeit vor. „Es hätte ein von der sprachlichen Seite typisch chinesischer Schriftsteller wie Yia Pingwa ausgewählt werden sollen“, bedauert Yang. Yia ist heute der innerhalb Chinas vielleicht bekannteste Schriftsteller, dessen Werke die Zerstörung chinesischer Tradition durch den Kommunismus anprangern.

Chefredakteur Yang kennt Gao von seiner Tätigkeit als Übersetzer für den chinesischen Schriftstellerverband zu Beginn der Achtzigerjahre. Vielen war Gao damals als außerordentlich tüchtig und begabt aufgefallen. „Im Aufbruch der Achtziger hatte sich Gao in Peking einen Namen gemacht, allerdings hauptsächlich als Übersetzer“, erinnert sich Zhang Yushu, Literaturexperte an der Peking-Universität. Selbst ihm, einem Altersgenossen, sind die eigenen Werke Gaos nicht vertraut.

Für den renommierten deutschen Wissenschaftler und Übersetzer des chinesischen Dichters Bei Dao, Wolfgang Kubin, ist die Preisvergabe an Gao Xingjian „nicht nachvollziehbar“. Sein Werk sei „Mittelmaß“ und zudem in China völlig unbedeutend, sagte Kubin. Die Jury habe im Grunde einen französischen Schriftsteller geehrt.

Ein „Franzose chinesischer Sprache“ erhält den Literaturnobelpreis, teilte gestern denn auch der staatliche Radiosender RFI in Paris mit. Nach über einem Jahrzehnt in Frankreich war Gao Xingjian bis gestern ein perfekter Unbekannter in Paris. Staatspräsident Jacques Chirac und Premierminister Lionel Jospin, die ansonsten darum wetteifern, dekorierten Landsleuten das allererste Glückwunschfax zu schicken, hüllten sich am Nachmittag in Schweigen. Kommentare waren auch nicht bei den Sprechern der Menschenrechtsinitiativen zu bekommen, die sich seit Jahren für die Volksrepublik China interessieren.

Mag sein, dass das Schweigen an mangelnden Kontakten von Gao Xingjian liegt. Mag sein, dass Gao Xingjian diese Kontakte selbst gar nicht will. Der Titel seines in diesem Jahr auf Französisch erschienenen jüngsten Werkes deutet in diese Richtung: „Das Buch eines einsamen Mannes“ („Le livre d’un homme seul“).

In den letzten Tagen hatten die Pekinger Medien damit gerechnet, dass im Falle der Auszeichnung eines Chinesen der zu Hause einem großen Publikum bekannte Dichter Bei Dao ausgewählt würde, der wie Gao seit über zehn Jahren im Westen lebt, unter Dissidenten einen herausragenden Ruf besitzt und schon viele Mal für den Preis nominiert wurde.

Im Fall der Kürung Bei Daos hätten sich die Kommunisten zwischen Neuauflage und öffentlicher Denunziation entscheiden müssen. Jetzt sieht es ganz danach aus, als könnten sie den Stockholmer Beschluss schlicht ignorieren. China wird weiter auf seinen ersten Nobelpreisträger warten müssen.