Facelifting für den Westen

Polanica-Zdrój ist ein sehr abgelegener Kurort an Polens Grenze zu Tschechien. Früher ging alles seinen sozialistischen Gang. Heute buhlt der Flecken um zahlungskräftige Kunden aus Deutschland

von BARBARA OERTEL

Scheinwerfer tauchen die Freiluftbühne in gleißendes Licht. Heute hat das bekannte polnische Folkloreensemble „Śląsk“ im schlesischen Polanica-Zdrój (früher: Bad Altheide) seinen Auftritt. Junge Männer in weiten Filzhosen und Stiefeln wirbeln über die Bretter. Ihre weiblichen Pendants verlieren kurz die Bodenhaftung, werden aber sanft wieder aufgefangen. Ständig verschlingen sich die Akteure in neuen Formationen. Das Publikum rast. Der Höhepunkt: Als eine gesungene Hommage an die Bergarbeiter ertönt, summen die Zuschauer wehmütig den Text mit.

Solche Events, bei denen die Jugend den Takt vorgibt, sind in diesem Ort mit 7.500 Einwohnern, im Talkessel von Kłodzko gelegen unweit der Grenze Polens zu Tschechien, eher die spektuläre Ausnahme. Denn bislang kommen die Menschen vor allem hierher, um müde Herzen, rebellierende Mägen und schmerzende Glieder auszukurieren. Das soll sich ändern. Polanica hofft wie viele Kurorte im mitteleuropäischen Osten nicht nur auf mehr Investitionen aus dem Ausland. Junge Menschen sollen anreisen, sie mögen zum Jungbrunnen für Polanica werden.

Das wird nicht einfach, denn der Ort liegt etwa gleich weit von Berlin wie von Warschau entfernt, nämlich zwischen vier bis sechs Autostunden. Aber als Kurort hat Polanica-Zdrój Tradition, damit lässt sich werben. Eine gern erzählte Legende besagt, dass einst ein Schäfer eines seiner Lämmer rettete, das sich im Moor verirrt hatte. Als beide wieder festen Boden unter sich hatten, erfrischte sich der Hirte an einer Quelle, bevor er in einen tiefen Schlaf fiel. Am nächsten Morgen fühlte er sich so jung wie in seiner Jugend. So entstand später an dieser Stelle ein Kurort, in dem Schlamm und Mineralquellen zu den wichtigsten Heilmitteln wurden.

Erstmals erwähnt wurde Polanica-Zdrój als „Gute Heyda“ 1347. Zweihundert Jahre war der Ort in Besitz von Augustinern und Jesuiten. Letztere bauten zu Anfang des 17. Jahrhunderts die ersten Badeeinrichtungen. Seine Blütezeit erlebte der Ort Anfang des vorigen Jahrhunderts. Unter der Ägide der Gesellschaft Badeverwaltung Altheide entstanden fünfzig Pensionen und Sanatorien, wurde ein Kurpark angelegt sowie das zentrale Kurhaus (Wielka Pieniawa) und die Trinkhalle (Pijalnia) erbaut. Die Krönung: ein Kurtheater mit siebenhundert Plätzen, 1925 fertig gestellt.

Goldene Zeiten. Bad Altheide konnte sich damals mit bedeutenden Persönlichkeiten rühmen. So hatte hier der Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy versucht, ungebührliche Darmwinde zu vertreiben, ein paar Jahrzehnte später schickte sich der deutsche Kaiser Wilhelm II. an, mit Fichtelnadelbädern seine morschen Knochen auf Vordermann zu bringen.

Damals wie heute ist der Kurpark das Herz des Ortes. In der Trinkhalle sprudelt das Heilwasser in einen schwarzen Brunnen. Durstige fangen das kostbare Nass in Schnabeltassen auf, die es auch in Form von Elefanten, Katzen, Schwänen und Herzen zu kaufen gibt. Getragenen Schrittes geht es dann in den Park, wobei das Wasser in kleinen Schlucken getrunken werde sollte.

Das Kurhaus Wielka Pieniawa nahe der Trinkhalle ist mittlerweile zum ersten Sanatorium am Platz geworden. Die Räumlichkeiten in dem riesigen Villenbau wurden erst kürzlich einer Verjüngungskur unterzogen. Nichts erinnert mehr an die einfachen Unterkünfte für die polnische Arbeiterklasse, die sich hier zu Zeiten des Sozialismus auf Staatskosten und nach Plan erholen durfte. Die frisch gestrichenen Zimmer, in denen Fernseher und Telefone das Ende der Welt mit dem Rest derselben verbinden, sind mit Rattanmöbeln und bunten Stoffgardinen ausgestattet. In den Badezimern blitzen die Armaturen.

In der hauseigenen Kurabteilung warten gummibeschuhte Frauen in weißen Kitteln auf Arbeit. Bereitwillig führt eine von ihnen das topmoderne Gesundheitsinventar vor. Eine Wanne füllt sich mit einer bräunlichen Flüssigkeit, einem Fichtennadelextrakt, der mit Unterwassermassagetechniken an den Mann oder die Frau gebracht wird.

In diesem Sanatorium kostet ein Tag inklusive Verpflegung und drei Kuranwendungen je nach Zimmergröße 93 bis 253 Zloty (rund 45 bis 125 Mark). Die Gäste aus dem Ausland, von denen Deutsche die größte Gruppe stellen, sind allesamt Selbstzahler. Denn deutsche Krankenkassen lehnen bislang die Finanzierung einer Kur im Ausland ab – kein geringes Hindernis beim Gewinnen kaufkräftiger Kundschaft aus den Ländern der Europäischen Union.

Marek Golkowski von der Polnischen Organisation für Tourismus sprudelt so unaufhörlich wie die Mineralwasserquellen. Die Infrastruktur des Tals samt Polanica-Zdrój sei phantastisch. Nicht nur Kurgäste kämen auf ihre Kosten. Zu den Attraktionen zählen laut Golkowski auch Wanderwege durch Naturschutzgebiete, Tropfsteinhöhlen und Felsenlabyrinthe. Dennoch sei der Spagat zwischen einem Kur- und Ferienort schwierig. Als Touristen kommen vor allem ältere Menschen nach Polanica. Die meisten stammen aus dem Ort oder der Region.

Dass der Nostalgietourismus sich irgendwann biologisch von selbst erledigt haben wird, weiß auch Golkowski, er gibt es unumwunden zu. Die Lösung hat er auch parat: „Wir müssen die Region auch für jüngere Menschen attraktiver machen und weiter erschließen.“ Doch stünden der Realisierung größerer Vorhaben noch viele Hindernisse im Weg. So kommt die Privatisierung, eine der Voraussetzungen für Polens Beitritt zur Europäischen Union, nur langsam voran. Zwar sind alle Kureinrichtungen und älteren Hotels in Aktiengesellschaften umgewandelt worden, aber an denen hält der Staat die Mehrheit der Anteile. Auch gebe es neue Gesetze über den Erwerb von Grund und Boden. „Doch die Menschen trauen sich nicht zu investieren.“ Und dann sei da noch etwas, klagt Herr Golkowski, was seinen Mühen im Wege steht – Vorurteile nämlich: „Im Westen heißt es, die Polen seien unorganisiert, schmutzig, und hier wimmele es von Dieben. Vorurteile – die uns sehr schaden.“

Zwei, die etwas gewagt haben, sind Kazimiera und Ryszard Jedryka. Ihre Pension „Panorama“ liegt etwas oberhalb der Hauptgeschäftsstraße, der Ulica Zdrojowa. 1996 kauften die beiden das Gebäude und richteten das ehemalige Herrenhaus in zweijähriger Arbeit her. Der Einsatz hat sich gelohnt, wenngleich für die ehemalige Bergbauingeneurin Sechzehnstundenarbeitstage die Regel sind.

Die zwölf Zimmer mit 36 Betten sind meist ausgebucht. Zwar verwöhnte Kazimiera Jedryka schon Portugiesen, Spanier, Italiener und Japaner mit ihrer polnischen Hausmannskost, die meisten ihrer Gäste kommen jedoch aus Deutschland. Und auf diese Klientel haben sich die Jedrykas perfekt eingestellt. Ganz im Sinne des Schnäppchenjägers sichert wiederholtes Erscheinen einen Vorzugspreis. Im Garten des Anwesens zelebrieren die Gäste beim Grillen, bei Schwein und Bier heimatliche Geselligkeit. Und damit der Deutsche auch ruhig schläft, kann er sich bei Frau Jedryka am Tresen per Videokamera vom unversehrten Zustand seines vierrädrigen Kleinodes auf dem Parkplatz überzeugen.

Obwohl bei Kazimiera Jendryka der Laden läuft, ist sie unzufrieden. Mit der wirtschaftlichen Entwicklung gehe es nicht schnell genug voran. „Doch unser Bürgermeister ist ein Ortsfremder, dem liegt das Schicksal der Menschen hier nicht so am Herzen.“

Ein vielleicht zu harsches Urteil. Denn auch das Geschäft mit der Eitelkeit brummt. Bereits 1951 wurde hier Polens erste Spezialklinik für plastische Chirurgie eröffnet. Aber ging es dort vor dem Abschied vom Sozialismus vor allem darum, Unfallopfern wieder ein menschenwürdiges Äußeres zu verleihen, steht jetzt mehr und mehr der Schönheitsaspekt im Vordergrund.

Piotr Wojcicki, seit über zwanzig Jahren als Facharzt für Plastische Chirurgie tätig, hat die Zeichen der Zeit erkannt. Der Mittvierziger, der vormittags im örtlichen Krankenhaus arbeitet, empfängt in seiner Privatklinik, einem Einfamilienhaus unweit des Zentrums. Hier liftet Wojcicki faltige Visagen, strafft wabbelige Bäuche, verhilft Frauen zu selbstbewusstseinssteigernden Oberweiten, modelliert Nasen und legt Ohren an.

Zunehmend wenden sich auch Interessierte aus dem Ausland an den Spezialisten. „Mein ältester Patient, der sich hat liften lassen, war ein 78-jähriger Amerikaner“, erzählt Wojcicki. Bevor er in diese Klinik kam, habe der Mann umfassend recherchiert. „Die Leute sind skeptisch, was die Ausstattung und die hygienischen Bedingungen angeht.“

Trotzdem scheint nicht zuletzt der Preis alle Zweifel zu beseitigen. So wird ein Busen für rund viertausend Mark prall, ein Facelifting gibt es schon für 2.500 Mark. Doch auch Wojcickis Landsleute sind, so wird berichtet, auf den Geschmack gekommen. Früher, so Wojciki, habe das Aussehen eine untergeordnete Rolle gespielt. „Nun kommen Geschäftsleute, die gut aussehen, oder Sekretärinnen, die etwas für sich tun wollen. Die Leute glauben, dass ihnen Verbesserungen des Äußeren ihre Arbeit erleichtern.“

Es ist Abend geworden in Polanica-Zdrój. Die Kurgäste haben das Gesundheitswasser mit alternativer Flüssignahrung vertauscht. Viel Zeit bleibt ihnen nicht, die Bürgersteige werden um zehn Uhr hochgeklappt. In den Kurpark ist kurz vor dem Schlafengehen noch einmal Leben eingezogen. Um einen Teich haben sich an die hundert Menschen versammelt: Wasserlichtspiele.

Zu Straußwalzern und Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ tanzen Fontänen, in vielen Farben illuminiert. Mit letzter Kraft dann das Finale. Senkrecht erhebt sich ein Wasserstrahl, um kurz darauf in alle Richtungen auseinander stiebend im glitzernden Becken zu versinken. Das Publikum klatscht. Typisch Kurbetrieb, das ist in Polen nicht anders als sonst wo.

BARBARA OERTEL, 36, taz-Osteuroparedakteurin seit 1995, lebt in Berlin. Sie hat Polanica-Zdrój Ende August besucht