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Wer einen guten Job will, muss schon früh damit anfangen, Leistung zu bringen – um einen Platz auf einem der besseren Gymnasien zu bekommen. Polen seit dem Ende des Sozialismus vor elf Jahren: Ein Land, das seinem Nachwuchs nur Chancen und Perspektiven bietet, wenn er schon im Kindesalter sich Ranking- und Prüfungsstress unterwirft

von HENK RAIJER

Der Stundenplan der 1b ist hammerhart: fünfmal Mathe, viermal Deutsch, fünfmal Englisch. 37 Wochenstunden hat der vierzehnjährige Jan Bijas im neuen Schuljahr zu bewältigen. „Gott sei Dank“ aber, so stellt der frischgebackene Oberschüler erleichtert fest, „keine Religionsstunden mehr“. Einen Priester als Lehrer wollen auch die meisten Eltern nicht mehr, die sich am 1. September in der Aula der Szkoła Główna Handlowa (SGH) zur Eröffnung des Schuljahrs eingefunden haben. Am „Liceum“ SGH im Warschauer Bezirk Mokotów steht statt Religion Ethik auf dem Stundenplan.

Ein Novum. Wie das ganze Gymnasium. Jan Bijas und seine 44 Mitschüler bilden die ersten zwei Klassen einer neu begründeten, nicht öffentlichen Schule, aus deren Reihen die gleichnamige Hochschule für Wirtschaftswissenschaften (SGH) ihren Nachwuchs zu rekrutieren hofft. An der Ausrichtung der hauseigenen Kaderschmiede lässt Rektor Marek Rocki keinen Zweifel: „Die SGH wird eine Eliteschule nach amerikanischem Vorbild sein. Wir haben für Ihre Kinder die besten Lehrer ausgewählt, und die werden sehr gut bezahlt.“ Bei einem Schulgeld von monatlich umgerechnet 360 Mark könnten Eltern individuelle Betreuung verlangen, ergänzt Direktorin Marta Juchnowicz. Aber: „Wenn ein Schüler stolpert, werden wir kein Auge zudrücken.“

Die Eltern der künftigen Elite haben weder Kosten noch Mühe gespart, ihren Sprösslingen den Sprung in eine gute Zukunft zu ermöglichen. Jan Bijas bekam in den Monaten vor den in Polen üblichen Aufnahmeprüfungen bis zu dreimal wöchentlich Nachhilfeunterricht, um die Wissenslücken zwischen achter Grundschulklasse und Oberstufe zu schließen. Jan schaffte es nach Prüfungen an zwei anderen Spitzenschulen, die Kriterien der SGH zu erfüllen; manche seiner Mitschüler bewarben sich bei zehn Gymnasien, fielen aber durch – aus der Traum vom späteren Spitzenjob. Jan, der in seiner „Freizeit“ am Konservatorium Trompete lernt, war am Ende des letzten Schuljahrs völlig fertig. „Statt Mathe hätte ich oft sogar lieber Trompete geübt.“

Dass Universitäten die Schulung ihres akademischen Nachwuchses selbst in die Hand nehmen, ist in Polen nichts Ungewöhnliches mehr. Der Grund: die Konkurrenz auf dem Ausbildungsmarkt. Im Rennen um die vorderen Plätze im Ranking sind die Hochschulen auf die stete „Zulieferung“ vielversprechender Abiturienten angewiesen. Das Ranking, das die Zeitschrift Perspektywy nach Angaben von Firmen, Rektoren und der Akademie der Wissenschaften erstellt, schließt alle öffentlichen, halbstaatlichen und privaten Hochschulen ein und bemisst sich nach Studienbedingungen, Renommee der Professoren und Prestige.

Ausschlaggebend für den guten Ruf eines Gymnasiums wiederum ist die Zahl der Abiturienten, die die Aufnahmeprüfung an einer Hochschule bestehen, die im Ranking ganz weit oben rangiert. Kein Wunder also, dass Gymnasien ihre Position durch eine rigide Auswahlpolitik festigen möchten. Längst haben Universitäten, die ihren Schwerpunkt auf Betriebswirtschaft, Jura oder Informationstechnologie legen, jenen auf Medizin, Gesellschaftswissenschaften oder Sprachen spezialisierten Hochschulen den Rang abgelaufen. Das zeigt die Dynamik eines Landes, das wie kein anderes in Osteuropa einen turbulenten Wandel erlebte.

Technischer Pragmatismus und die Ausrichtung auf eine Zukunft in einem säkularisierten Polen sind in den letzten zehn Jahren an die Stelle einer Orientierung an humanistischen und religiösen Grundwerten getreten. Wer auf Tradition und Kirche nichts gibt, wer seinem Kind ein Standbein in Polen und ein Spielbein in Europa verschaffen will, bastelt frühzeitig an dessen Karriere und ebnet ihm den Weg an die Krakauer Jagiellonenuniversität (1999 die Nummer eins) oder an die SGH: die Garanten für den Erfolg.

Die polnische Gesellschaft lechzt nach Erfolg. Der Weg dorthin führt über ein gezieltes Studium mit schnellem Abschluss und einem ersten Job mit 24. „Eigentlich wollte ich gern Geschichte studieren, aber ich wollte nicht arbeitslos sein“, begründet der 25-jährige Mariusz Hyla seinen Entschluss, Rechtsanwalt zu werden. „Die meisten meines Jahrgangs haben sich für Jura oder Management entschieden. Nach 1989 war klar, welche Leute bald gebraucht würden“, sagt Hyla. Auch habe er sich überlegt, dass es nützlich sein könnte, deutsch zu sprechen. „So stand für mich fest, dass ich zum Jurastudium an die deutschpolnische Viadrina gehe.“

Sein Studium also in Frankfurt (Oder) und Słubice zu absolvieren, hat sich für den Juristen bezahlt gemacht. Fremdsprachen zu sprechen, ist für ihn seither normal. Mariusz Hyla, der seit Januar als Referendar in einer internationalen Anwaltskanzlei in Warschau arbeitet, will sich auf gar keinen Fall auf Strafrecht spezialisieren. „Lohnt sich nicht“, sagt der höfliche, zurückhaltende junge Mann.

Geld verdienen die „Ministranten des Kapitals“ (die Zeit über die aufstrebende Jugend Polens) in Warschau besser als in der Provinz, wo die Arbeitslosenquote locker die Zwanzigprozenthürde nimmt. Aber der Preis ist oft eine Sechzigstundenwoche. Der Grund: die Jobkonkurrenz in der Hauptstadt. „Es gibt schon in Warschau zu viel junge Leute mit einer guten Ausbildung. Die von anderswo haben da kaum eine Chance. Arbeitgeber nutzen das aus“, weiss Maciej Ptaszyński, Vermittler bei der Zeitarbeitsfirma Adecco.

Das französisch-schweizerische Unternehmen, das in sechs polnischen Städten Büros unterhält, konnte voriges Jahr nach eigenen Angaben allein in Warschau zehntausend Kunden zu einem befristeten oder festen Job verhelfen – zehn bis fünfzehn Prozent von ihnen waren Akademiker. „Gerade die ausländischen Arbeitgeber legen die Latte immer höher“, sagt Ptaszyński.

Wo die Anforderungen steigen, wird der Karriere wegen schon mal ein Urlaub geopfert. Sprachkurse, Managementtrainings, Computerschulungen – wer nach oben will, paukt in der Freizeit und zahlt noch dafür. Auch Mariusz Szałaj, bei einem US-amerikanischen Lebensversicherer in Warschau für die Kostenüberwachung verantwortlich, glaubt, dass nur Weiterbildungen helfen, um den Boss auf sich aufmerksam zu machen. „Aber finanziell bringt das auch nicht viel“, meint der Betriebswirt aus Częstochowa, der auf 3.400 Zloty (1.700 Mark) netto kommt.

Binnen zehn Jahren möchte es der 27-Jährige – der heute wie jeden Freitag, dem Vorbild seiner US-Chefs folgend, am casual day Jeans und Polohemd trägt – zum Finanzdirektor gebracht haben. Einen Job im Ausland würde er nur kurze Zeit annehmen. „Was soll ich mich länger dort aufhalten“, sagt Szałaj, der als Student mit stattlichen Summen an der Börse jonglierte und vom Gewinn schon damals einen Neuwagen kaufte. „In Polen spielt die Musik.“

Im Vergleich zu den Helden von Börse und Business wirkt Jerzy Witkiewicz wie ein Fossil. Der 37-jährige Germanist aus Kętrzyn in Masuren, der heute als Koordinator für Abrechnung und Computerwesen in einer Warschauer Anwaltskanzlei arbeitet, verspürte 1986 nicht die geringste Motivation, den Hörsaal gegen einen Klassenraum in der Provinz einzutauschen. „Wir wollten damals so lange wie möglich an der Uni bleiben, das Leben genießen“, erinnert er sich. „Das Arbeitsleben im kommunistischen Polen bot keinen Anreiz.“

Seine Deutschkenntnisse nutzte Jerzy Witkiewicz auf andere Art: Er unterbrach seine Studien und schlug sich drei Jahre mit Gelegenheitsjobs in Deutschland durch. Auch nach dem Examen konnte er sich ein Berufsleben in Polen nicht so recht vorstellen – zu lukrativ erschienen die Verdienstmöglichkeiten im Westen. Erst 1992 kehrte er nach Polen zurück. Zwar verdiene er nicht schlecht, sagt Witkiewicz. „Aber meine Perspektive ist begrenzt. Stünde ich heute vor der Wahl, ich würde neben Deutsch BWL oder Informatik belegen.“

Ob Finanzjongleur oder Mediamanager – Jan Bijas, der vorerst alterstypisch nur auf Fußball und Computern steht, weiß, wie wichtig eine gute Ausbildung ist. Lernbereit ist der Neugymnasiast allemal. Und gerüstet. Zwei Wochen Oxford im Sommer und Deutsch als zweite Muttersprache – „da kann ich mich voll auf Mathe, Physik und Informatik konzentrieren“, sagt Jan, der als Vierjähriger von Wrocław nach Frankfurt am Main zog und erst mit elf nach Polen zurückkehrte. In Deutsch will sich der Vierzehnjjährige zur „Olimpiada“ melden, einem nationalen Leistungswettbewerb für Schüler. „Das bringt Vorteile für die Gesamtbewertung am Ende des Jahres.“ Jan Bijas hat noch genau vier Jahre, danach wird durchgestartet.

HENK RAIJER, 46, taz-Schwerpunktredakteur, lebt in Berlin und Warschau