Jugend, Bildung und Berufsbilder

In der polnischen Gesellschaft hat sich die Einstellung zur Arbeit in den letzten zehn Jahren entschieden verändert. War Arbeit 1988 für die meisten noch ein notwendiges Übel zum Gelderwerb, so erwarten zehn Jahre später drei Viertel der Polen Befriedigung im Beruf. Nach dem Gelderwerb erst an dritter Stelle kommt die Familie – wie 1988.

Nur die Jugend gibt sich hier noch Illusionen hin. Sie setzt das Familienleben in ihren Wünschen, wie es in zehn bis fünfzehn Jahren sein sollte, noch an die erste Stelle. Die Arbeit hingegen ist ihr weniger wichtig als noch vor vier Jahren. Heute will jeder dritte Jugendliche mit Abitur Karriere machen – vor vier Jahren war es noch jeder fünfte.

Bildung, nicht etwa Geschlecht oder Schicht, werden von den Fünfzehn- bis Achtzehnjährigen als entscheidend für den eigenen Erfolg angesehen. In den letzten zehn Jahren hat sich ihre Wertschätzung in allen Alterskassen mehr als verdoppelt. Bildung bedeutet in Polen Hochschulbildung. Über fünfzig Prozent der Jugendlichen streben sie an, nur fünf Prozent haben eine Berufsgrundschule für Handwerker im Auge.

Der Examens- und Notenkult ist enorm. Jeden Sommer bestimmen die Abiturprüfungen wochenlang die Schlagzeilen, und eine nicht abgeschlossene Magisterprüfung brachte den Stuhl von Präsident Kwasniewski ordentlich ins Wanken.

Traumberufe der Jugendlichen sind heute Makler, Bankangestellte, Ökonomen und Marketing-Spezialisten gefolgt von Informatikern und Ingenieuren. Auch Anwalt und Lehrer finden sich oben auf der Wunschliste. In der Gesamtgesellschaft vom Prestige her gleich hinter Professor, Arzt und Bergarbeiter kommt der typische Frauenberuf der Krankenschwester.

Eher wenig Prestige haben unter Befragten aller Altersklassen qualifizierte Facharbeiter. Seit 1988 an Ansehen eingebüßt haben die Bergleute, Staatsfabrikdirektoren, Pfarrer und Journalisten – zugelegt haben einzig die typischen Büroberufe.

Was aber ist mit denjenigen, deren Bildungsträume zu hoch gesteckt sind? Wer in Polen erfahren will, wie es mit der qualifizierten Berufsbildung aussieht, stößt auf Unverständnis. „Damit befassen wir uns“, erklärt eine Mitarbeiterin des Wochenmagazins Wprost.

Der Ausspruch ist nicht untypisch. Lehrstellen in unserem Sinne gibt es in Polen nicht. Man kann das Handwerk on the job erlernen und nach drei Jahren ein staatliches Examen machen oder in die Berufsgrundschule gehen. Dort gibt es ab und zu ein Praktikum.

Diese Schulen, früher von den Staatsbetrieben geführt, wurden zumeist geschlossen. Heute sind die Lokalbehörden für die Berufsschulen zuständig, doch die haben oft kein Geld.

Manchmal springen deshalb Nichtregierungsorganisationen ein. Eine Bildungsreform ist gerade im Gange. Sie will mit den starren Strukturen aufräumen. Bis 2002 sollen die ersten neuen Berufsschulen in Betrieb sein. PAUL FLÜCKIGER