Polens Rückkehr nach Europa

Das Land jenseits der Oder-Neiße-Grenze will möglichst schnell Mitglied der Europäischen Union werden – weil es sich schon immer Europa zugehörig gefühlt hat. Wird Polen nicht bald Teil des europäischen Hauses, könnten die Demokratisierungs- und Modernisierungsprozesse in Gefahr geraten

von CHRISTIAN SEMLER

Vorbei die Zeit, in der man Polen in Europa nur in dreierlei Gestalt wahrnahm: als fliegende Händler auf dem Potsdamer Platz in Berlin, als Kraftfahrzeugzwischenhändler und als fromme Pilger auf dem Petersplatz in Rom. Von Jalta nach Mallorca. Von der Zwangsgemeinschaft des sozialistischen Lagers zum freiwilligen kollektiven Urlaubsvergnügen. Ersichtlich ist Polen in Europa angekommen.

Lieb gewordene Stereotype werden erschüttert, vor allem im Verhältnis zum unmittelbaren westlichen Nachbarn. Die „polnische Wirtschaft“ verheißt nicht mehr Schlendrian, sondern hohe Wachstumsraten, und wir Deutschen sehen uns zunehmend unserer Lieblingstugenden Fleiß, Zuverlässigkeit, Disziplin und Ordnung durch die Polen enteignet. Hilfe! Sogar über Literatur scheint dieses Land reichlich zu verfügen, wie jetzt auf der Frankfurter Buchmesse nachprüfbar.

Was in Reisen wie in Geschäften bereits in vollem Gange ist, entwickelt sich bei den Beitrittsverhandlungen Polens in die Europäische Union wie erwartet. Es gibt noch kein Beitrittsdatum, aber dass Polens Rückkehr nach Europa ihr glückliches Ende finden wird, ist unbestritten auch bei eingefleischten Euroskeptikern.

Die „Rückkehr nach Europa“, sie wurde zu Beginn der Neunzigerjahre, nach der demokratischen Revolution, in Polen zur meistzitierten Redewendung, wenn es um den zukünftigen Ort des Landes im geografischen, politischen und kulturellen Koordinantensystem ging. Powrót do Europy meint aber nicht nur Rück-, sondern auch Heimkehr. Diese Doppelbedeutung entsprach dem Selbstverständnis der polnischen Intelligenz. Schon unter der Herrschaft des Realsozialismus hatte sie sich als Teil eines Werteuniversums gesehen, das, in Europa entstanden, die westlichen europäischen Gesellschaften bis hin zu den Demokratien der Gegenwart geprägt hat.

Die Wurzeln dieses Wertekanons sah man in der antiken, der jüdisch-christlichen und der aufklärerischen Tradition. Freiheit und Würde des Einzelnen galten als höchstes Gut. Weshalb der polnische Publizist Marcin Król Ende der Achtzigerjahre ausrufen konnte: „Aut Europa, aut nihil“ – entweder Europa oder überhaupt nichts. Er verstand das als Wertentscheid.

Wie viele der politischen Schlagworte in Polen war auch die „Rückkehr nach Europa“ ursprünglich der Literatur entlehnt. 1931 hatte der polnische Dichter Jarosław Iwaszkiewicz einen berühmt gewordenen Gedichtzyklus mit diesem Titel veröffentlicht. Iwaszkiewicz war damals im Bann einer Europaidee, die sich an das mystische Bild des staufischen Kaisertums anlehnte, mit Kaiser Friedrich II. als Idealgestalt. Es war der Kreis um den Dichter Stefan George, in dem elitär-aristokratische Vorstellungen dieser Art gepflegt wurden.

Viele Anhänger des George-Kreises sahen in der nazistischen Machtergreifung die Morgenröte eines solchen Europa. Iwaszkiewicz tat das nicht. Er sagte sich nach 1933 vom Dunstkreis der „staufischen“ Europäer los und zog sich gedanklich auf Sizilien als Sehnsuchtsterritorium zurück. Dadurch wurde die „Rückkehr nach Europa“, vom ursprünglichen ideologischen Ballast befreit, frei zum Gebrauch der demokratischen Intelligenzija.

Die „Rückkehr nach Europa“ als Heimkehr ins gelobte Land abendländischer Werte überschnitt sich mit einem geopolitischen Denken, dessen Ursprünge bis auf die polnischen Teilungen zurückgehen. Nach diesem Denken bestand das Unglück Polens darin, zwischen zwei im Prinzip „antiwestlichen“, expansionistischen Mächten eingeklemmt zu sein: Russland und Preußen/Deutschland. Stalins Verhandlungsstrategie am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde als List interpretiert: Durch die Abtrennung der ehemals deutschen Ostgebiete sollte die Feindschaft zu Deutschland und die Abhängigkeit von Russland in alle Ewigkeit fortdauern.

Die Aufnahme Deutschlands in das westliche Bündnissystem und die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), vor allem aber die von der sozialliberalen Koalition ausgesendeten Signale, die Bundesrepublik werde an der Oder-Neiße-Grenze nicht mehr rütteln, führten zur Erosion des alten geopolitischen Denkens. Zwar versuchten die Realsozialisten, bis zum Schluss ihrer Herrschaft das Bündnis mit der Sowjetunion als alternativlos hinzustellen, da die revanchistische Gefahr aus Deutschland immer noch virulent sei.

Aber schon in den Achtzigerjahren setzte sich in der polnischen demokratischen Opposition die Einsicht durch, dass ein künftiges, vereintes Deutschland keine Bedrohung mehr für Polen darstelle. Nach 1989 prägte deshalb der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski zusätzlich zur „Rückkehr nach Europa“ die Losung „Der Weg nach Europa führt über Deutschland“. Diese Vision Szczypiorskis ist eingetroffen. Es war vor allem die Bundesrepublik – sprich Helmut Kohl –, die Polen den Weg zu den EU-Beitrittsverhandlungen geebnet hat. Dass nicht nur Sympathie oder Schuldgefühle hinter diesem Entscheid standen, sondern Stabilitäts- und Marktstrategien, machte die Politik Kohls für Polen umso wertvoller.

Denn für die neuen wie für die alten Machteliten in Polen hat die Idee der Staatsraison, verstanden als rationales, parteien- und klassenübergreifendes, langfristig zu verfolgendes Kalkül, ihre Bedeutung behalten. Die polnischen Politiker unterstellen auch ihren Partnern, zum Beispiel den Deutschen, dieses Denken, unabhängig davon, ob sich ein Politiker wie Kohl in erster Linie als Europäer verstand beziehungsweise die „nationalen Interessen“ Deutschlands mittels und durch die EU verfolgen wollte.

Das polnische politische Denken will sich stets der langfristigen Kontinuitätslinien versichern. Gerade deshalb wurde die „Rückkehr nach Europa“, also der Beitritt zu Nato und EU, als endlicher Durchbruch aus der geopolitischen Klemme verstanden. Und deshalb stimmen die politischen Eliten einschließlich der zu Sozialdemokraten gewandelten Exrealsozialisten darin überein, dass der erfolgreiche Abschluss der Brüsseler Beitrittsverhandlungen das Gebot Nummer eins der polnischen Staatsraison darstellt.

Dieses Ziel, so die Auffassung aller polnischen Regierungen nach 1989, sollte von Polen am besten nicht im Verein mit den anderen ostmitteleuropäischen Regierungen, sondern im Alleingang verfolgt werden. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die polnischen politischen Eliten grundlegend von ihren Kollegen, die nach der demokratischen „Wende“ das Schicksal der damaligen Tschechoslowakei und Ungarns bestimmten. Dort spielt die Idee von „Mitteleuropa“, verstanden als „Ostmitteleuropa“, eine entscheidende Rolle.

Die unterschiedlichsten Autoren stimmten darin überein, dass „Ostmitteleuropa“ gerade wegen seiner Zwischenlage und seiner historischen Erfahrungen mit dem Sozialismus in der Lage sei, ein spezifisches Erbe ins europäische Haus einzubringen: zivilgesellschaftliche Netzwerke als Bastionen gegen die staatlichen und gesellschaftlichen Großorganisationen; eine auf den Menschenrechten gründende, dennoch aber zum Pragmatismus fähige Politik; ein Bild des Bürgers jenseits des Homo oeconomicus.

Solche Vorstellungen gab es auch in Polen, aber ihre Vertreter haben sie sich nach 1989 abgeschminkt. Ohnehin hatte in der polnischen politischen Tradition „Ostmitteleuropa“ eine ganz andere Gestalt. Es umfasste, zum Beispiel bei dem einflussreichen Historiker Oskar Halecki, die baltischen Staaten und den westlichen Teil der Ukraine, der von der unierten, das heißt dem Katholizismus zugehörenden orthodoxen Glaubensrichtung beherrscht wurde.

Unter diesen Voraussetzungen hat sich Polen nie an der für die Reform der EU zentralen Frage beteiligt, welche Rolle eigentlich kleine Länder in der zukünftigen Union spielen, welchen kulturell-politischen „Beitrag“ sie leisten sollten. Die „Rückkehr nach Europa“ schließt aber auch die Frage mit ein, was mit den Ländern geschehen soll, aus deren Zwangspartnerschaft sich Polen nach 1989 verabschiedet hat.

Anders als im Fall „Ostmitteleuropa“ hat es sich die polnische Außenpolitik zur Aufgabe gemacht, das künftige Verhältnis der EU zur Ukraine und zu Weißrussland zu thematisieren, also zu jenen Staaten, die teilweise der alten, im 18. Jahrhundert untergegangenen Adelsrepublik, der Rzeczpospolita, zugehört hatten. Diesem Interesse entspricht eine neu erwachte Leidenschaft, sich mit den kresy, den alten, jetzt verlorenen polnischen Ostgebieten, zu beschäftigen.

Die neue Mode hat aber keinerlei grenzrevisionistischen Beigeschmack. Vielmehr geht es darum, sich nicht gegenüber den östlichen Nachbarn abzuschotten, den Einwohnern der Ukraine und Weißrusslands Reisemöglichkeiten zu erhalten, die demokratische Kultur in diesen Ländern zu fördern, finanziell Mittel der Europäischen Union für die Nachbarn bereitzustellen und vieles mehr. Die polnische demokratische Öffentlichkeit will „den Westen“ gerade darauf hinwisen, dass sich „Ostpolitik“ nicht in dem Versuch erschöpfen darf, ein gedeihliches Verhältnis zu Russland herzustellen.

Herumschlagen muss sich allerdings diese „Ostpolitik“ mit dem Problem, dass sie direkt der Verwirklichung des Schengener Abkommens zuwiderläuft, dem Polen beigetreten ist. Denn die Ratio hinter „Schengen“ besteht ja gerade darin, die künftige polnische Ostgrenze möglichst undurchdringlich zu gestalten. Polens Rolle als Sachverständiger in Richtung Weißrussland und Ukraine begegnet in Brüssel tauben Ohren, wie der polnische Autor und Wissenschaftler Aleksandr Smolar kürzlich lakonisch feststellte.

Während der Jahre vor und nach dem demokratischen Aufbruch von 1989 durften sich die intellektuellen Europareisenden eins fühlen mit der großen Mehrheit. Sie formulierten, ganz im Sinn der traditionellen polnischen Auffassung von der Rolle der Intelligenz, die Wünsche und Hoffnungen des Volkes. Angesichts der permanenten Wirtschaftskrise von den Siebziger- bis in die frühen Neunzigerjahre erschien den einfachen Leuten der Westen als Inbegriff für Wohlstand.

Es handelte sich hier nicht nur um aus der Not geborene Phantasiegebilde von Ländern, wo Milch und Honig fließen. Hunderttausende von Polen profitierten von den erleichterten Reisemöglichkeiten, jobbten im westlichen Ausland, machten sich ein realistisches Bild der Lage und stimmten anschließend ein in den Schlachtruf der Intelligenzija. So gewann die Staatsraison der politischen Eliten ihre Massenbasis.

In den letzten Jahren hat sich dieses Bild differenziert und gleichzeitig verdüstert. Die christlich-konservative Rechte sorgt sich um den Fortbestand christlicher Werte und polnischer Eigenart, wenn Polen in die EU, also in die Familie der westlichen Wohlstandsmaterialisten eintritt. Solchen ideellen Besorgnissen entsprechen höchst materielle. Im Milieu der Kleinbauern, die die polnische Landwirtschaft beherrschen, wechselt angesichts der EU-Verhandlungen die Hoffnung auf Beihilfen mit der Furcht vor der übermächtigen Konkurrenz der westlichen agrarischen Großbetriebe.

Die Bauernpartei PSL, einst Blockflöte im realsozialistischen Konzert, erweist sich zunehmend als Dauerbremser bei der europäischen Reise. Furcht um die Arbeitsplätze greift in jenen industriellen Großbetrieben um sich, die jetzt schon starkem Rationalisierungsdruck ausgesetzt sind, vor allem den Steinkohlebergwerken. Je länger die Brüsseler Verhandlungen andauern, desto stärker wird die Front der Euroskeptiker.

All diese – rational nachvollziehbaren – Befürchtungen werden aber überschattet von einer Art Urangst – der um die polnische Erde. Mit dem EU-Beitritt gilt die Freiheit des Kapitalverkehrs, damit aber auch das Recht der Ausländer, Grundstücke zu erwerben. Zu dem potenten, meist als Deutschen imaginierten Aufkäufer tritt der deutsche Vertriebene, der vor den europäischen Gerichtsinstanzen die Rückgabe seines Grundbesitzes oder Schadensersatz fordert. Entsprechende Erklärungen der Vertriebenenverbände haben das politische Klima in den einstmals deutschen Gebieten aufgeheizt.

In rechtsgerichteten Veröffentlichungen sieht man eine Neuauflage des deutschen „Drangs nach Osten“, diesmal nicht mit Kanonen, sondern mit Euros. Polens Verhandlungsdelegation in Brüssel steht deshalb vor dem Problem, eine möglichst lange Übergangsfrist für den Kauf von Grundstücken hrauszuschlagen. Dabei zeichnen sich die Konturen eines Deals ab: Du beschränkst den Grunderwerb, und ich beschränke den freien Zuzug von Arbeitskräften, bekanntlich eine weitere Grundfreiheit innerhalb der EU.

Für die Fortsetzung der „Rückkehr nach Europa“ stehen heute vor allem die in der „Freiheitsunion“ vereinten Liberalen und demokratisch orientierten Katholiken einerseits – und die zu Sozialdemokraten mutierten ehemaligen Realsozialisten andererseits. Beide trennt der Abgrund des Jahres 1989, die demokratische Revolution. Aber beide könnten sich, der Staatsraison folgend, zusammenfinden, um schließlich im Hafen der Europäischen Union einzulaufen.

CHRISTIAN SEMLER, 61, lebt in Berlin und ist seit fünf Jahren fester Mitarbeiter der taz